Wir brauchen die Kritik der reinen Vernunft nicht

Die Fortsetzung des Denkens mit anderen Mitteln, so könnte man – aus der historischen Perspektive des Idealismus oder auch des Materialimus heraus – beschreiben, was Anfang des letzten Jahrhunderts ein paar Philosophen, die ihre Köpfe zugleich auch in exakte Wissenschaften gesteckt hatten und weiterhin steckten, zur Lösung der mehr als zwei Jahrtausende alten persistenten Probleme ihrer Disziplin beizutragen hatten.

In Wien kulminierte diese Bewegung zu einem ersten Höhepunkt, dem sogenannten (zweiten) Wiener Kreis um den Ordinarius für ‚Philosophie der induktiven Wissenschaften‘ Moritz Schlick. Der in Heidelberg ausgebildete Mathematiker und Naturwissenschafter Schlick wurde 1922 auf Initiative von Hans Hahn nach Wien berufen – gleich ein Affront gegen die herrschende Mischung aus klerikalen und idealistischen Strömungen, die in der Philosophie ein vom pingeligen Gequäke der Wissenschaften zu verschonendes Refugium des von Logik freien Geistes erblickten. Mit einem geringschätzigen Wort Schlicks waren sie Metaphysiker.

In seiner Vorlesung Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang aus dem Wintersemester 1933/34 legte Schlick in einem bravourösen Ritt durch die Jahrhunderte und Disziplinen eine fundamentale Klarstellung vor: die sogenannten Probleme der Philosophie entstehen aus einem unpräzisen Umgang mit der Sprache und der Verwechslung von Worten und Dingen, aus einer unreflektierten Verwendung der (mit einem stringenten Begriff:) logischen Grammatik.

Natürlich erweist sich Schlick hier beeinflusst von Wittgenstein, ja der gesamte Wiener Kreis mit Rudolf Carnap, Otto Neurath, Hans Hahn, und vielen anderen war stark beeindruckt vom einzigen Buch dieses nach Nietzsche zweiten Zertrümmerers der Philosophie. Friedrich Waismann hielt beständig Kontakt mit dem zunächst in der niederösterreichischen Abgeschiedenheit einer Landlehrerstelle lebenden und ab 1929 in Cambridge lehrenden Wittgenstein, trug immer wieder dessen radikale kritische Ansichten in den Kreis.

Schlicks erkenntnistheoretischer Realismus steht in scharfem Gegensatz zum Idealismus – und schon gar zum deutschen, was insoferne bemerkenswert ist, als diese Psotiion nicht von jemand eingenommen wird, der auswärts, im angelsächsischen Raum, wo der Positivismus viel stärker beheimatet ist, steht, sondern von einem, der mitten in deutschen Landen spricht.

Er verwirft anhand der Frage, ob es synthetische Urteile a priori geben könne, was Kant notgedrungen, um sein Lehrgebäude aufrechterhalten zu können, bejaht, ebendiesen und sein System vollkommen. Dabei klingt manches durch aus dem Tractatus Logico-Philosophicus Wittgensteins:

Der Welt aber können wir nichts vorschreiben, wir haben sie nicht gemacht, sie steht uns gegenüber. Wir können nur die Art vorschreiben, wie wir über die Welt reden. Wir müssen sogar die Art, wie wir unsere Aussagen über die Welt einrichten wollen, festsetzen, sonst könnten wir uns über diese Welt nicht verständigen.

Schlick konstatiert, dass Kant an diesem Punkt – womöglich in Kenntnis dieser Tatsache – sein System zerstören würde, gestände er dies ein:

In der Einsicht, dass wir nur verordnen können, wie wir uns in unserer Sprache der Natur gegenüber verhalten wollen, bleibt ein Gedanke Kants erhalten; sein ganzen System aber ist annulliert, denn für die Geltung a priori bleiben uns nur die analystischen Urteile übrig.

Wenn man Schlicks Vorlesung als eine Einführung in die Philosophie liest, so erscheint sie einem nachgerade optimal: die Dinge werden ohne allzuviel Verstiegenheit in historischer Perspektive genauso wie in ihrem sachlichen Zusammenhang dargestellt, ein System der Philosophie also, das gar keines sein will: Schlick negiert die meisten der Probleme, ja er reduziert sie durchaus glaubhaft auf Sprachprobleme, auf solche der logischen Grammatik.

Leider ist die einzige Ausgabe der Vorlesung bei Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft inzwischen vollkommen vergriffen.

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