Die Tragik des Oberhunnen

Man hat ihn gern verantwortlich für die Urkatastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts gemacht und in deren Gefolge auch als Auslöser der Hitlerei und des deutschen Weltuntergangs gesehen: der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II polarisierte nicht nur zeit seines Lebens, er tat das auch durch eine lange Phase tendenziöser Geschichtsschreibung wie politischer Vereinnahmung.

Christopher Clark: Wilhelm II - Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers

Der britische Historiker Christopher Clark widmet sich in seiner politischen Biografie Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers der Frage, welche Art der Herrschaft und des Einflusses der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II ausübte.

Wilhelm ist von der einen Seite attestiert worden, ein Spielball der nationalen wie internationalen Politik gewesen zu sein, ein alberner Tropf, der sich von seiner von homoerotischen Freunden durchsetzten Hofkamarilla steuern ließ – und in einer Reihe von peinlichen Ausrutschern in Interviews und Ansprachen die ernst gemeinte deutsche Außenpolitik desavouierte. An der Kette peinlicher Affären ist nicht zu rütteln und zu deuteln, die sind trotz vielfältiger Vertuschungsbemühungen bestens dokumentiert.

Von anderer Seite wurde Wilhelm als dämonischer Kriegstreiber dargestellt, und manche seiner unbedachten Äußerungen scheinen exakt in diese Richtung zu weisen. Christopher Clark arbeitet aber deutlich heraus, dass dieser leicht infantile deutsche Kaiser mit größerem Abstand gerne das militärische Säbelrasseln hervorkehrte, jedoch in kleinliche Friedenssehnsucht verfiel, sobald ein Konflikt sich ernstlich näher als am Horizont abzeichnete.

Es ist sicherlich schwer, aus den disparaten Randnotizen und Äußerungen des Kaisers einen Strang zu flechten, der eindeutig die eine oder die andere Position stützen könnte. aber genauso wie im Fall des habsburgischen Kaisers Franz Joseph scheint es sich beim Hohenzollern Wilhelm um einen bedauerlichen Degenerationspunkt dynastischer Herrschaft gehandelt zu haben: beide waren sie vermutlich harmlos, jedoch in eine Zeit gestellt, die mit harmlosen Irren an der Spitze von Großmächten und ihren enormen Militärmaschinerien nur in eine Katastrophe stürzen konnte.

So wie beide – und auch der letzte Zar – sich von Gott in ihre Herrschaft eingesetzt wähnten, ist zu konstatieren, dass eben diese höhere Macht den Ratschluss gefasst zu haben schien, es sei Zeit geworden, ihnen ihre bevorzugte Stellung auch wieder abzunehmen. Bleibt von Wilhelm der eine oder andere pointierte Sager, der sich hinterdrein als nachgerade hellsichtig erweisen sollte: die deutschen Hunnen und das Pardon wird nicht gegeben

Wilhelm mochte sich der tieferen Bedeutung seiner Worte im Augenblick, als er sie sprach, gar nicht bewusst sein, schon gar nicht der verheerenden Wirkung, die solch kindische Großtuerei gerade aus seinem Mund hervorrufen sollte. Aber genau das macht ihn zum Oberhunnen, wenn auch zu einem tragischen.

Über Wilhelm sagt Clark:

ein intelligenter Mensch, ausgestattet allerdings mit einem schlechten Urteilsvermögen, der zu taktlosen Auswüchsen und kurzlebigen Begeisterungen tendierte, eine ängstliche, zur Panik neigende Gestalt, die häufig impulsiv aus einem Gefühl der Schwäche und Bedrohung heraus handelte.

Heute ist es längst nicht mehr notwendig, diese im Grunde tragische Figur zur Rechtfertigung einer Position heranzuziehen. Zwischen Dämonisierung und Heroisierung wird der Blick auf einen Monarchen frei, der Einfluss zu nehmen suchte, aber keinerlei Plan hatte, was er damit schlussendlich anfangen sollte. Seine Macht war eng begrenzt, und dennoch trug er an einer der entscheidenden Stellen der fatalen Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts die letzte Verantwortung: löste der Habsburger in quasi-seniler Ignoranz den bedrohlichen internationalen Verflechtungen gegenüber einen vermeintlich regional begrenzten Krieg aus, so hob der Hohenzoller diesen alsgleich mit kindischem Trotz auf das Niveau eines Weltkriegs.

Beide spielten ihre Rollen in dieser absurden Tragödie, als könnte man die Bühne jederzeit wieder verlassen, als wäre nach dem Vorhang die alte Welt wieder da. Sie waren aber nicht die einzigen; ganz wesentlich spielte auch Zar Nikolaus II mit, dessen unbeirrbarer Rückhalt für die damals wie heute zersetzenden regionalen Machtspiele der Serben den lokalen Brand erst groß genug anfachte, um damit Lunte an die Zündschnur der europäischen Bündnisse zu legen.

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