Der erste Rückgriff auf Kant

Friedrich Albert Lange (1828-1875), Gymnasiallehrer, sozialistischer Aktivist, zu Ende seines Lebens endlich auch Univertätsprofessor in Zürich und Marburg, war einer der ersten, die sich – neben Schopenhauer, und im Gegensatz zu ihm auf Basis der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse im Laufe des 19. Jahrhunderts – darüber klar wurden, dass der über Fichte und Schelling bis zu Hegel auf die Spitze getriebene Idealismus an seinem Bankrott angelangt war. Stattdessen sei besser zu Kant zurück zu kehren und dessen nur halb erledigtes Werk zu komplettieren: die Abschaffung der Metaphysik.

Friedrich Albert Lange - Geschichte des Materialismus

Seine Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart versucht, das eine Extrem der Zeit, den im Rahmen des naturwissenschaftlichen Fortschritts auch in Deutschland neu aufwallenden blanken Materialismus, sowohl in historischer Perspektive als auch in seiner Bedeutung in der Gegenwart des Autors darzustellen.

Nun ist Lange nicht wirklich Materialist. Seine Darstellung ist dennoch fair, er sucht – und findet – in den Ansichten der Materialisten und angrenzender Positionen seit der Antike die ernsthaften Argumente; und er präsentiert sie durchwegs mit Sympathie. Offenbar ist ihm das andere Ende der Extreme – der Idealismus, die ausufernde Metaphysik – der eigentliche Greuel.

Enthalten ist im ersten Band – von der Antike bis vor Kant – ein tiefgreifendes Portrait der englischen (vor allem Hobbes) und der französischen Materialisten (v.a. D’Holbach und De la Mettrie). Im zweiten Band widmet sich Lange eingehend der tranzendentalen Philosophie von Kant, um dann die aktuelle Entwicklung der konkreten Wissenschaften seines Jahrhunderts zu analysieren.

Stellenweise, und das gerade, wo er in seiner aktuellen Zeit schreibt, bringt Lange durchaus untrockene, humorige, sogar bissige Sätze zu stande – wie etwa, wenn er gegenüber Kants grundlegendem Irrtum, der strikten Trennung der Handhabung der Denkgesetze von den Begriffen als Hort der Spekulation, einwendet:

Auch liegt der Fehler der Anhänger des common sense keineswegs im einseitigen Ausgehen von der Erfahrung. Man käme der Sache näher, wenn man den deutschen Ausdruck „gesunden Menschenverstand“ etwa nach Analogie von „baumwollener Strumpffabrikant“ und ähnlichen schönen Wortbildungen auffassen könnte. Es ist nämlich in der Tat, wenn auch nicht etymologisch, der mittelmäßige Verstand eines gesunden Menschen, d.h. eines Menschen, der ausser seiner rohen Logik auch noch gesunde Sinne anwendet, welcher bei seinen Urteilen ausser dem Verstand auch das Gefühl, die Anschauung, Erfahrung, Kenntnis der Verhältnisse in ungeregelter Weise mitsprechen läßt, wo dann in Fragen des täglichen Lebens innerhalb der Schranken der landesüblichen Vorurteile erin gute und in keinem Falle exzentrisches Durchschnittsurteil herauskommt.

Nichts desto trotz ist Lange überzeugt, dass nur mit einem Rückgriff auf die originale Tranzendentalphilosophie – unter Kenntnis der problematischen Voraussetzungen und Fehleinschätzungen des Königsberger Philosophen – der Philosophie in Deutschland, die mit Hegel sich endgültig und vollkommen in Spinnerei verrannt hat, zu helfen wäre.

Dieses Projekt des Rückgriffs auf Kant ist bis heute nicht zu seinem Abschluss gelangt; die fundamentale Erkenntnis der Apriorität von Erfahrungsbedingungen, mithin der Mitbestimmung des Denkens an der Erscheinungswirklichkeit, welches jedoch nicht bis in die Realität hinaus zu reichen vermag, ist uns auch heute noch genauso gegeben. Nicht zielführend war Kants Programm, eine Lösung in der Gestalt apriorischer synthetischer Urteile zu finden. Aktuell hingegen ist nach wie vor die präszise Fragestellung, vor die Kant uns stellte und stellt.

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