Die Weltverschlingungsmaschine

War für Karl Kraus das Österreich des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts die Versuchsstation des Weltuntergangs, so kann man im Jahre 1937 in Moskau das Innenleben einer veritablen Weltverschlingungsmaschine besichtigen.

Karl Schlögel - Terror und Traum. Moskau 1937

Terror und Traum: Moskau 1937 von Karl Schlögel führt an einen zwiespältigen historischen Ort: die Hauptstadt der Herrschaft des Proletariats ist eine Art Wolkenkuckucksheim zumindest für Intellektuelle, die dort nicht dauernd leben müssen. Mit gigantischen Bauprojekten, denen längst der ursprünglich innovative Geist der befreiten Kunst und Architektur abhanden gekommen ist, nachdem seit Jahren im roten Reich Genosse Stalin herrscht, wird die betriebsame Baustelle einer neuen Welt markiert wie weiland der General Potemkin der Zarin seine halbseitigen Dörfer baute.

Im Jahr 1937 ist ein vergrößertes Moskau der Institutionen im Entstehen, die sich breitmachen, wo einstens Menschen lebten; und zugleich beherbergt die Stadt eine enorm gewachsene Anzahl von Menschen, die hierher gekommen sind, weil sie an der Zukunft mitpartizipieren wollen, weil sie aus ihrer unmittelbaren Vergangenheit brutal vertrieben wurden. Die Ambivalenz von pulsierendem städtischem Leben und Schreckensstarre produziert bleibende Werke der Weltliteratur wie Bulgakows Meister und Magarita oder menschenschinderischer Großprojekte wie den Moskwa-Wolga-Kanal oder die gigantomanische Untergrundbahn.

Es ist die Zeit der großen Schauprozesse, in denen Stalin dem Volk und seinen eigenen Spießgesellen vor Augen führte, dass ihre Heimat von perfiden Mächten bis ins Innerste bedroht werde und füglich jeder von ihnen auf der Hut zu sein habe. Gleichzeitig besuchen westliche Intellektuelle wie Lion Feuchtwanger Moskau und lassen sich mehr oder minder bereitwillig ins Stalins propagandistische Beschönigungsmaschinerie einspannen.

Atemberaubend – bis einem das Lachen gefriert! – das Kapitel über die Volkszählung, die in einer bürokratischen Schwejkiade von Allunionsdimensionen zu Tage bringt, wie viele Menschen der Sowjetunion bereits fehlen nach inzwischen 20 Jahren Einparteiendiktatur. Und natürlich durfte das Ergebnis nicht veröffentlicht werden, gerieten die Statistiker und Beamten ins Visier von Stalins Rachegelüsten.

Das Buch ist eine Ortsbesichtigung im Kern des Historischen. Seine Ortsgebundenheit befreit von der Sorge um historische Zeitläufe und ihre voreiligen Festlegungen; es eröffnet Blicke, die sonst nur in Spezialdisziplinen zu haben sind, und dabei eine Rundumschau ins lebendige Herz der Weltrevolution, die ihre Arme von Spaniens Bürgerkrieg bis in die Zeitungen New Yorks ausstreckt.

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