Ein ganzer Kontinent der Moderne

Das Label col legno hat in seiner Reihe Kontinent etwa zum Prinzip erkoren – und damit einer schleichenden Inflation unterworfen -, das normalerweise ausnehmend vielfältigen Künstlern attribuiert wird: von einem Kontinent kann man sprechen, wenn es weitläufige Areale zu erkunden gibt; andernfalls würde ich eher von Inseln oder Eilanden sprechen, wie etwa bei Brahms oder Bruckner. Einen Kontinent würde ich Mahler zugestehen, und natürlich auch Edgard Varèse:

Ende 2011 ist also Kontinent Varèse erschienen: Varèse steht damit in einer Linie mit Sciarrino, Berio, Cerha, Kurtág und Nono. Bei den wiedergegebenen Werken handelt es sich um Live-Mitschnitte mehrerer Konzerte des Zyklus „Kontinent“ der Salzburger Festspiele – begründet, damit dort auch mal was sinnvolles passiert.

Edgard Victor Achille Charles Varèse war ein Vielseitiger, der sich auch vielseitigen Einflüssen aussetzte: Anfang des 20. Jahrhunderts studierte er in Paris, übersiedelte bald nach Berlin, angelockt von der neu begründeten Ästhetik der Moderne im Gefolge von Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst.

Zurück in Paris erlebte er die Uraufführung von Stravinskijs Scare und arbeitete im Umfeld von Cocteau. Der erste Weltkrieg vertrieb ihn wie so manch andere Künstler über den Atlantik in die USA. Dort entwickelte sich in den Zwanziger Jahren in Auseinandersetzung mit den ebenfalls emigrierten Dadaisten um Duchamps sein eigener Stil: monumentales Zeugnis davon ist sein schon früher begonnenes aber in diesen Jahren finalisiertes Orchesterstück Amèriques: auf der CD zu hören vom RSO Wien unter Bertrand de Billy. Hier gelingt die hohe atmosphärische Dichte in massiven Ausbrüchen und rhythmischer Wucht.

Ionisation geniesst den Ruf, das erste allein für Schlagwerkensemble komponierte Werk der Musikgeschichte – soweit sie uns zugänglich ist – zu sein, wenngleich Tcherepnin in seiner 1. Symphonie zumindest schon einen Satz nur für Schlagwerker schrieb. Hier wird es durch Martin Grubinger und das Ensemble The Percussive Planet uner der Leitung von Martin Grubinger sen. fulminant zum Leben erweckt.

Inrteressant auch der Vergleich mit der Version für Kammerensemble, die es am Ende der CD in der Interpretation vom Ensemble Modern Orchestra unter Francois-Xavier Roth zu hören gilt.

Stiller, aber nicht weniger intensiv die Offrandes für Sopran und Kammerorchester, gesungen von der Britin Julie Moffat mit dem Ensemble Modern Orchestra unter Francois-Xavier Roth. Weiters: Hyperprism für 9 Bläser und Percussionisten, Intégrales für 11 Bläser und 8 Percussionisten.

Varèses in den dreißiger Jahren wesentliche Auseinandersetzung mit der elektronischen Musik stellt die Aufführung des Ecuatorial für Bass, 8 Blechbläser, Klavier, Orgel, 2 ondes Martenot und 6 Percussionisten ins Zentrum: Bass Otto Katzameier sowie Jacques Tchamkerten und Thomas Bloch an den ondes Martenot mit dem Ensemble Modern Orchestra, geleitet von Francois-Xavier Roth. Das Stück hat eine eigene Geschichte: ursprünglich gesetzt für zwei Theremin Cellos, musste Varèse es in den Fünfziger Jahren für zwei ondes Martenot umschreiben, da es keine Theremin Cellos mehr gab.

Dieser Querschnitt aus unterschiedlichen Konzerten bietet wahrlich die Gelegenheit, den musikalischen Kontinent – im besten Sinne des Wortes – eine Mannes zu erforschen, dem eine zentrale Rolle in der modernen Musik zusteht, die jedoch viel zu wenig wahrgenommen wird.

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