Wessen Freiheit? Wessen Rechte?

Ach ja: ein Kölner Gericht hat dieser Tage die rituelle Beschneidung eines Knaben als Körperverletzung gewertet und verboten. Die ganze Sache ist natürlich langwieriger und komplizierter, aber es läuft darauf hinaus, dass damit angeblich die Freiheit der Religionsausübung eingeschränkt wird. Man kann sich das Wutgeheul vorstellen.

Die beobachtbaren Reaktionen sind aber weitaus differenzierter: die einen betrachten das natürlich sogar als einen empfindliche Eingriff in die Religionsfreiheit; andre betrachten es als eine längst fällig Klarstellung, dass wir eben nicht mehr in einer Stammesgesellschaft von Schafhirten oder Kameltreibern leben; wieder andere sehen darin einen wichtigen Schritt zur Aufhebung einer Bevorzugung von religiösen Freiheiten vor anderen Freiheiten. Ich gebe gleich im Vorhinein zu, ich gehöre zu dieser dritten Gruppe.

Das Problem sind nämlich nicht die Freiheiten, sondern die Religion(en). Es steht zwar noch immer nicht gänzlich außer Streit, ist aber selbstevident, dass es bei der existierenden Vielfalt an Religionen derzeit keinen allgemeinen Konsens gibt, welche denn nun die wahre sei; ergo dürfen wir sie samt und sonders bestenfalls als Wahrheitsanwärter mit nicht präjudiziellem Status ansehen. Ohne diesen Status der Wahrheit sind sie allerdings bestenfalls Vereine mit ethisch-weltanschaulichen Schwerpunkten, bei denen nicht einzusehen ist, warum sie einem exklusiveren Club angehören als andere Vereine, vom Freidenkerbund bis zum Bierreisen e.V.

Im Detail: mit Religion ist das so eine Sache – sie hat nicht nur viele Gestalten, sie läuft auch auf einer Reihe verschiedener Ebenen ab. Eine davon ist die der Rechtlichkeit: das beginnt bei der Frage nach der Garantie freier Religionsausübung, reicht aber bis hin zur Einpassung in ein Gesamtsystem der Individual- und Gesellschaftsrechte.

Immer wo mehrere Rechtsgüter im Spiel sind, gilt es abzuwägen, zu priorisieren, klare Verhältnisse zu schaffen; und da in einer aktiven Gesellschaft Rechtsgüter sich entwickeln, ist dieser Prozess niemals wirklich abgeschlossen.

In dieser Hinsicht konfligieren Religion und Rechtsstaat gerne und häufig, und zwar auf Grund unterschiedlicher Bezugssysteme im Raum-Zeit-Kontinuum. Der jeweils aktuelle Rechtsstaat ist nah dran an dem, was wir Gegenwart nennen, und er entwickelt sich. Entwicklung gibt es auch bei den Religionen, keine von ihnen ist heute mehr so wie anno Schnee, als sie vom Himmel fiel; ihr Bezugspunkt liegt allerdings in eben dieser Tiefe der Zeit und der gesellschaftlich-geografischen Ferne – die großen Weltreligionen etwa der jüdisch-christlich-moslemischen Tradition stammen allesamt, wenn man ihren eigenen Entstehungsmythen Glauben schenken will, aus randständigen Gebieten mit einer selbst für die damalige Zeit hinterwäldlerischen Bevölkerung.

Die historische Wahrheit liegt allerdings anderswo: aus irgendwelchen mehr zufällig überlieferten oder gar frei erfundenen Figuren konstruieren städtische (!) Redaktoren Generationen später, was sich schlussendlich als Religion manifestiert.

Da in allen diesen Entwicklungen Überlieferung und Redaktion eine nicht unwesentliche Rolle spielen, ist es von vornherein ein deutliches Zeichen von Ignoranz, irgendeinen dieser Zustände der religiösen Inhalte für das Original zu halten. Dass man sich dessen auch innerhalb der Religionsgemeinschaften bewusst ist, zeigt sich darin, wie Überlieferung und Redaktion ihrerseits in die Religion selbst eingemeindet werden, um diesen Widerspruch gleich an der Wurzel aus der Welt zu schaffen.

Wahrheit reduziert sich damit auf eine Glaubensfrage; die Tradition hebt sich selbst aus der Geschichte. Religion beinhaltet keinerlei – in philosophischer Terminologie – positive Normensetzung.
Nun prallen solche Glaubensinhalte in Gestalt von Ansichten über die Welt in einer höher entwickelten Zivilisation auf inzwischen verbesserte und diversifizierte Ansichten oder – besonders konfliktträchtig – als von der Religion gebotene Handlungen oder Unterlassungen auf ein diffizil ausgewogenes System von Rechtsgütern.

Der demokratische Rechtsstaat macht es nicht leicht mit der Religion: überall, wo er sich auf die Menschenrechte gründet, gesteht er dem Individuum die grundsätzliche Freiheit der Wahl und Ausübung beliebiger Religion zu. Aufgabe desselben demokratischen Rechtsstaates ist es aber zugleich, ein funktionierendes System konkurrierender Rechtsgüter aufrecht zu erhalten.

Wo Religionsfreiheit und das Recht eines Individuums auf körperliche und seelische Unversehrtheit in Konflikt geraten, ist es die Aufgabe des Rechtsstaates, diesen Konflikt zu lösen und eine für die demokratisch qualifizierte Gesellschaft akzeptable Abwägung der konfligierenden Rechtsgüter gegeneinander vorzunehmen, mit dem Resultat einer klaren Rangreihung derselben.

Wir sind uns alle einig, dass die Lösung einer solchen Frage nicht durch den Ausgang einer Prügelei zwischen den Anhängern der jeweiligen gegnerischen Positionen herbeigeführt werden kann und soll; mit etwas Vernunft sollten wir auch erkennen können, dass keine Art von Senioritätsprinzip, bei dem automatisch immer die ältere Ansicht priorisiert würde, kein Autoritätsprinzip, bei dem ein gesamter Lebensbereich dem anderen übergeordnet würde, und kein Isolationsprinzip, bei dem die ganze konfligierende Materie per definitionem keinen Außenstehenden etwas anginge, den Ansprüchen einer Gesellschaft, in der wir auch leben wollen, genügen kann.

Der demokratische Rechtsstaat hat sich den Schutz des Individuums zur Kernaufgabe gemacht. Also darf niemand einen anderen töten oder physisch oder psychisch verletzen, ganz egal zu welcher Nation, welcher Gesellschaft, Gemeinschaft oder Sippe die einen wie die anderen gehören.

Dass sich der demokratische Rechtsstaat damit nicht leicht tut, wird an der Diskussion an den Außengrenzen dieses Gewaltverbots klar ersichtlich: in Momenten staatlicher Gewaltanwendung, sei es im hoheitlichen Innenbereich oder bei zwischenstaatlichen Konflikten, strapaziert die Verletzung dieser Prinzipien den gesellschaftlichen Konsens erheblich, bricht eine Sicht auf moralische Defizite auf, die zumeist nur sehr grob zu rationalisieren sind.

Diese Gesellschaft ist weit davon entfernt, bereits perfekt zu sein. Aber die Religionsgemeinschaften sind auch in keinem besseren Zustand, ja man kann sogar sagen, dass die Zurechnung von Verbrechen von der historischen Perspektive bis in unsere heutige Gegenwart sehr zu ihren Ungunsten ausfällt. Mord und Totschlag, Folter und Unterdrückung scheinen die Regel und nicht die Ausnahme zu sein – das geht auch bis zum inzwischen entstellend verklärten vor-chinesischen Tibet unter seinem buddhistischen Gottkönig.

Religionsgemeinschaften tendieren dazu, ihre eigenen Inhalte allenfalls selektiv zu leben. Dafür haben ihre Vertreter gelernt, auch in Phasen, da sie nicht die Hoheit über die Legislative und Exekutive haben, die Wahrung ihrer Rechte penibel zu beobachten – was ihnen auch zusteht.

Ein besonderes Kennzeichen dieser Religionsvertreter ist es dabei, dass sie die Kunst der Argumentation auf wechselnden Bedeutungsebenen geschickt zu nutzen wissen.

Da wäre zunächst die Ebene der Schrift, verstanden neuzeitlich als Buch und Lehre: in den Schriften aller Religionen scheint die Welt sehr in Ordnung, und bis auf ein paar Entgleisungen, die meistens schuldbewusst versteckt werden, geht es um das Wohl der Menschen. Das ist schön und konsensfähig.

Auf der Binnenebene der Religion als Gemeinde bilden sich mit wachsender Angehörigenzahl unweigerlich herrschaftliche Strukturen aus, die alsbald die Deutungshoheit an den Schriften an sich reißen und Gehorsam fordern. Das ist nicht mehr so schön und vom ängstlichen Stillschweigen gekennzeichnet.

Da sich Religionen zudem seit jeher als politische Organisationen gebärden, selbst wenn das auf der Ebene ihrer Schriften gar nicht vorgesehen ist, geraten sie rasch in die Widerwärtigkeiten der Macht, bisweilen als Verfolgte, oft aber als Verfolger. Das ist richtiggehend garstig und von verheerender Zerstörungskraft.

Die Kunst des Ebenenwechsels in der Argumentation besteht nun darin, in einer Diskussion um Belange der Gemeinde oder der Organisation die Schrift heranzuziehen, die aber gar nicht gemeint ist: diskutiert man mit Christen, Juden oder Moslems über die religiös motivierte Gewalt in ihrer Geschichte und Gegenwart, so preisen sie einem ihr jeweiliges Buch als segensreich an.

Aber nicht der papierene Jesus hat die Donatisten ausgerottet, das hatte ein in Fleisch und Blut stehender Bischof von Hippo namens Augustinus zu verantworten, die Bibel hatte nicht die Kraft, sich gegen diesen Missbrauch zur Wehr zu setzen – und auch der Gott, der angeblich als Absender dahinter steht, hat es nicht für der Mühe wert befunden, sich diese Beschmutzung seiner höheren Ehre zu verbitten. Da hätt‘ er ja einfach nur nochmal eine Botschaft vom Himmel herab zu senden brauchen. Für allerhand kleinliche Vorschriften war ihm das ja auch nicht zu blöd.

Ist es also nun so, dass lediglich böswillige Usurpatoren die Schriften zu ihrem Gebrauch verbiegen und damit gegen den Geist der Religionen agieren?

Nein, die Sache hat Methode, und diese Methode ist Unehrlichkeit: die Schrift ist Schwert und Schild des Gläubigen. Er teilt die Dresche aus, nicht die Schrift, wenn er aber einen Schlag empfangen soll, ist das plötzlich ein Übergriff auf die Schrift.

Analog verhält es sich bei der Beschneidung: die Schrift schnippelt nicht an dem Knaben rum, das tut der Mohel oder im relativ besseren Fall der Urologe, lassen die Eltern tun; in der religiösen Betrachtung des Sachverhalts fehlt das Objekt dieser Tat: für den Knaben sind hierbei offenbar keine Rechte vorgesehen. Bringt jemand diese ins Spiel, wird gleich mit der Schrift dagegen gefuchtelt.

Jeder der Beteiligten steht als Individuum unter dem Schutz der Freiheit der Religionsausübung. Dieses Recht steht auch dem Knaben zu, daran gibt es nichts zu rütteln, es ist allerdings nicht operationabel, bis er das entsprechende Bewusstseinsniveau erreicht hat, definiert durch ein Mindestalter. Stellvertretend entscheiden in der Zwischenzeit Eltern und Vormünder über die Belange des Kindes.

Inwieweit dürfen sich der Staat oder die Exekutive in Familie und Vormundschaft einmischen? Sie dürfen das, da kann es gar keine Debatte geben, denn die Machtvollkommenheit eines Patriarchen darf bei uns ja auch nicht bis zum Erschlagenen des Sohnes gehen – bei Töchtern besteht da bisweilen noch eine nicht unwesentliche Ungleichbehandlung, allerdings besteht der Staat inzwischen zum Glück auch bei weiblichen Nachkommen darauf, dass sie denselben Schutz und vor allem auch vor der Ehre der Familie genießen können.

Es ist mithin kein prinzipielles sondern ein graduelles Problem, ob eine nicht medizinisch erforderliche Operation eine solche Schutzwürdigkeit konstituiert oder nicht. Auch die recht fortgeschrittene Diskussion um Formen weiblicher Beschneidung zeigt, dass es nicht mehr um prinzipielle Fragen geht sondern um Ein- oder Ausschlüsse eines Katalogs von konkreten Handlungen in die Schutzwürdigkeit des Individuums.

Die rechtliche Frage stellt sich aber auf einer anderen Ebene: betroffen ist nämlich nicht die Religionsfreiheit des Knaben, weil der sie ja noch gar nicht wahrnehmen kann, sondern die der Eltern und ihrer Religionsgemeinschaft, die hier in Konflikt mit den Persönlichkeitsrechten des Knaben gerät. Hier ist sicher davon auszugehen, dass die Rechte des Knaben, um dessen körperliche Unversehrtheit es geht, primärer Wertigkeit sind vor den sekundären Rechten der Eltern, die ihrerseits ja gar nicht unterm Messer liegen.

Eltern sollten als Täter keine mildere Behandlung erfahren als Familienfremde. Sie sollten auch keine konterkarierenden Rechte geltend machen dürfen. Warum sollte es einem Fremden verboten sein, einen beliebigen Knaben beschneiden zu lassen, wenn es nicht auch den Eltern verboten würde? Geht es nicht um denselben Knaben? Eine Watschen ist eine Körperverletzung – auch wenn das ein besonders dummer Kärntner Politiker anders sieht –, egal ob sie vom Vater, dem Lehrer oder einem Passanten verabreicht wird. Beschneidung ohne Zustimmung des Beschnittenen ist eine Körperverletzung, egal von welcher Glaubens- oder Gesinnungsgemeinschaft sie als wichtig erachtet wird.

Auch Religion kann keine Legitimation für Körperverletzung konstituieren.

Das Dilemma ist: religiösen Eltern sind zweierlei Verantwortungen aufgetragen. Seitens des Staates wird der Schutz der Individualrechte ihrer Kinder verlangt, seitens der Religion die Beachtung der Vorschriften auch für die und im Namen der Kinder.

Regeln von Religionsgemeinschaften mangelt es aber immer an Legitimation, wenn sie in Konflikt mit Regeln des demokratischen Rechtsstaates geraten. Wir haben in dem Teil der Welt, der summarisch Westen genannt wird, im Verlauf einer enormen emanzipatorischen Anstrengung für unsere Staatswesen und die in ihnen versammelten Individuen den Primat des Religiösen abgelegt in gesellschaftlichen Fragen und solchen der Individualrechte, und zwar eindeutig und unmissverständlich. Niemand darf verbrannt werden, wenn er oder sie beschließt, anderer Meinung zu sein als der Papst, Luther oder Calvin, neuerdings auch als der Prophet. Es gibt daher auch in Teilbereichen keine Möglichkeit mehr, sich auf diesen einstigen Primat heute noch zu berufen.

Es muss der demokratischen Willensbildung – unter Einschluss der religiösen Menschen welcher Richtung auch immer, die in unseren Ländern als Bürger leben – überlassen bleiben, in graduellen Fragen Grenzen zu ziehen, zu verändern oder aufzuheben, wo diese qualifizierte Mehrheit der Meinung ist, dass das Not tut.

Kinder und Jugendliche genießen speziellen Schutz vor physischer Gewalt, psychischer Verletzung, sexueller Nötigung – warum sollten sie nicht auch vor Zumutungen religiöser Natur für schützenswert befunden werden, wenn diese ihre körperliche oder seelische Unversehrtheit beeinträchtigen?

Nein, es gibt hier keine Verletzung der Freiheit der Religionsausübung, es gibt hier nur einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einer entprivilegierten Religionsauffassung.

Zwischenzeitlich ist aber auch ein anderes Modell nicht uninteressant, nämlich die Begründung alternativer Religionsgemeinschaften wie der Kirche des fliegenden Spaghettimonsters – als Methode, die Privilegienbegründung ad absurdum zu führen – oder wie der Atheistischen Religionsgemeinschaft, um endlich auch für Ungläubige den Genuss vergleichbarer Rechtsgüter zu ermöglichen.

Nachtrag 17.7.2012
Einerseits steht das Urteil im Wortlaut zur Verfügung, andererseits gibt es eine ähnlich, wenn auch nicht gleich gelagerte Debatte in New York.

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