Es jährt sich

Der 22. Juni ist jedes Jahr ein besonderer Gedenktag, für die einen begann ein großes Abenteuer, von dem sie bis heute überzeugt sind, weiß der Teufel was Besonderes sie dabei geleistet hätten, für die anderen ist es schlicht der Beginn jenes titanischen Ringens, das sie den Großen Vaterländischen Krieg nennen und aus dem sie schlussendlich siegreich hervor gegangen sind.

Lagebedingt wird bei uns der Perspektive der Wehrmacht und ihrer noch heute lebenden Helden der weitaus größere Raum in der historischen Forschung eingeräumt, doch auch die andere Seite verdient es, kennen gelernt zu werden:

Der bittische Militärhistoriker Richard Overy beschreibt in Russlands Krieg 1941 – 1945 diesen anderen, ungewohnten Blick auf die sattsam bekannte Tragödie, eingebettet in eine im Schnelldurchgang durchschrittene Vorgeschichte vom ersten Weltkrieg an bis hin zur parteigerechten Interpretation hinterher.

Den Kern der Darstellung bildet die Entwicklung der sowjetischen Verteidigung von der blanken Überraschung in den ersten Kriegstagen über die beinahe entscheidenden ersten Monate, in denen die Rote Armee von der Wehrmacht bis vor die Tore Leningrads und Moskaus zurück geworfen wurde und der ganze Feldzug bereits entschieden schien, bis hin zur mühsam errungenen Wende vor und in Stalingrad, wo der deutschen Kriegsmaschinerie endgültig das Rückgrat gebrochen wurde – und wo die verbliebenen Veteranen bei uns noch heute völlig zu recht ihren Schrebergarten verteidigt zu haben meinen…

Stalin hatte in den Dreißiger Jahren seine Armee nicht nur enthauptet, als die im Bürgerkrieg erfahrene Generalität den Säuberungen zum Opfer fiel, sondern innerlich gelähmt, indem die politischen Kommissare und Parteifunktionäre zu Lasten der militärischen Strukturen den entscheidenden Einfluss übernahmen. Und dass die Partei zwar jederzeit eine dezidierte Meinung, jedoch niemals einen auch nur halbwegs realistischen Blick auf die Welt hatte, ist inzwischen genauso sattsam bekannt.

Die Verantwortung für die krasse Fehleinschätzung und die initiale Lähmung trug also der Diktator selbst: Stalin wollte noch zwei Tage nach dem Angriff der Deutschen nicht wahrhaben, dass das nun der befürchtete, aber konsequent ignorierte Überfall war, selbst als seine Militärs und Nachrichtenleute immer detaillierte Hinweise darauf zusammen trugen, ja selbst noch, während die Dampfwalze bereits durch den sowjetisch besetzten Teil Polens rollte.

In den ersten Monaten der Operation Barbarossa, wie das Unternehmen deutscherseits genannt wurde, war das einzige, was den Sowjetfunktionären gelang, eine weitreichende Verlegung kriegswichtiger Industrien hinter den Ural: ganze Fabriken wurden hastig auf Schiene gesetzt, mitsamt ihren Arbeitern und Rohstoffen auf teils wochenlangen Zugreisen kreuz und quer durchs Hinterland transportiert, um anschliessend am Zielort ebenso zügig wieder aufgebaut und in Betrieb genommen zu werden. Es wäre nachgerade als geniale organisatorische Leistung zu bewerten, hätte nicht auch hierbei das Chaos regiert; dennoch bleibt eine Erfolgsbilanz.

Direkt im Kampf bestimmten zunächst Parteifiguren, von Stalin abwärts, bar jeglichen Realitätssinns das Geschehen: es wurde zu halten befohlen, was längst überrannt war, es wurden Einheiten verschoben, die sich längst aufgelöst hatten – also nicht unähnlich der Schlussphase des Kriegs auf deutscher Seite. Die Partei hatte aus den verbleibenden Militärs initiativlose Zombies gemacht, bei denen die Angst vor der Exekution jene vor dem Feind bei weitem überwog.

Ein Teil der Geschichtsklitterung auf unserer Seite besteht in dem Argument, die sowjetischen Truppen hätten ausschließlich standgehalten, weil die Einheiten des NKWD mit der Waffe im Anschlag hinter ihnen gestanden hätten. Doch das Gegenteil ist wahr, wie Overy detailreich ausführt: die repressive Methode führte schon im Finnlandkrieg nicht zum Erfolg, 1941 bis in den Dezember hinein erst recht nicht.

Stalin löste das Problem der Verteidigung bis zum letzten Atemzug am Ende nicht durch die Partei, sondern durch eine Rückbesinnung auf Mütterchen Russland. Die überwiegend noch immer bäuerlich geprägten Volksmassen waren – wie schon in Zarentagen – für die Verteidigung ihrer Heimat zu motivieren, wenn ihnen schon das regierende System eher gleichgültig war. Untersuchungen dieser propagandistischen Wende werden zwar erschwert durch die Fälschungen nach dem Krieg, als es wieder um die Verherrlichung der Partei ging, doch ist genügend Material geblieben bzw. hat die Zeiten im Untergrund überdauert, um diesen Aspekt zu beleuchten.

Hitler und die deutschen Blitzkriegstrategen hatten nicht nur die Weite des russischen Raumes katastrophal unterschätzt, das Klima ignoriert und ihre eigene Überlegenheit blindlings geglaubt, sondern vor allem den Verteidigungswillen der Russen als nahezu inexistent veranschlagt. Die Stimmung in der Ukraine schien ihnen zunächst recht zu geben, denn die mehrheitlich nicht russische Bevölkerung setzte Hoffnung in eine Befreiung von der Sowjetherrschaft, doch wüteten die Deutschen von der ersten Stunde an so massiv gegen alles und jeden im Land, dass sich die Stimmung sofort wieder drehte.

Auf sowjetischer Seite übernahmen Ende 1941 talentierte Militärs die Hoheit über das Kampfgeschehen, entwickelte der spätere Marschall Schukow die erfolgreiche Strategie zur Verteidigung Moskaus – was aber alles wenig genutzt hätte, wären nicht Stalin und seine Propaganda über ihren Schatten gesprungen: sogar die orthodoxe Kirche wurde wieder zugelassen und umgehend in die Verteidigungsanstrengungen einbezogen. Hier lag eigentlich das Rückgrat der Wende…

Viel ist auch darüber debattiert worden, an welchem Punkt Hitler strategische Direktivwechsel den Krieg verspielten – aber diese Sicht der Dinge ist nach wie vor von der gleichen Haltung geprägt wie der ganze deutsche Angriff, von der Geringschätzung der russischen Seite. Es wäre vermutlich egal gewesen, welche Stoßrichtung Hitler seinen Generälen für 1942 gegeben hätte: die deutschen Möglichkeiten waren ausgeschöpft, Front- und Nachschublinien überdehnt, die technischen und menschlichen Ressourcen ausgeschöpft. Jeder Kilometer, den die Deutschen Armeen sich 1942 tiefer nach Russland hinein voran schoben, trug zu ihrer Erschöpfung bei.

Die Sowjets stellten hinter dem Ural ihre Truppen auf und installierten ihre Rüstungsproduktion, die alsbald jener des deutschen Reichs ebenbürtig werden sollte. Weit gefehlt waren die Annahmen der Deutschen, dass die Russen ihre Reserven erschöpft hätten. Das war – im Gegenteil – auf deutscher Seite der Fall. So gesehen war es Ende 1941 bereits einerlei, welche strategischen Entscheidungen die Deutschen trafen.

Der lange Weg nach Westen, den die Rote Armee mit dem Standhalten vor Moskau begann, mag verlustreich und mühsam gewesen sein, aber im Grunde schon in dem Moment vorgezeichnet, da der deutsche Vormarsch zum ersten Mal zum Stehen kam. Das Deutsche Reich hatte nicht die Ressourcen für einen Krieg, der in ein weiteres Jahr ging; und sie hätten ihn unter keinerlei Umständen jemals gewinnen können.

Zum Schluss ist auch jene Perspektive von Richard Overy zu begrüßen, die in den Ausschreitungen im Osten Deutschlands nichts anderes zu sehen vermag als eine logische Fortführung des deutschen Vernichtungskriegs; gemessen am Ausrottungswillen der Deutschen waren die Rotarmisten nachgerade Teddybären – und alles Gejammere der Vertriebenenverbände wie auch derer, die beim Einmarsch der Sowjets sonstwie zu Schaden kamen, fußt auf einer völligen Verdrehung der Tatsachen. Das System Hitler samt seinem Krieg um Lebenraum im Osten haben sie selbst demokratisch gewählt und über Jahre, in denen die Kriegsvorbereitungen für Arbeit und etwas Prosperität sorgten, gut geheissen. Da hat es kein unschuldiges Volk getroffen, denn auch die Kinder haften in so einem Fall für die Eltern, auch wenn sie es sich nicht aussuchen konnten.

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