Von der Vielfalt der Singularität

Der industrielle Massenmord, den Deutsch und Österreicher im Gefolge ihres geliebten Führers an den Juden und anderen, die ihnen in die Quere kamen, begangen haben, ist eine singuläre Erscheinung in der Geschichte. Man muss jedenfalls die Singularität dieses Verbrechens wieder und wieder bekräftigen, damit nicht diejenigen, die sich gegen diese Sicht der Dinge auflehnen, sich gestärkt fühlen können.

Allerdings findet, wer allein in der Geschichte des 20. Jahrhunderts blättert, Greuelgeschichten von ebenso unbegreiflichen Ausmaßen, dass es zur aufrechterhaltung der Singularität der Shoa eines besonderen ethnischen Blickwinkels oder einer abendländisch zentrierten Weltsicht bedarf. Allein der Große Vorsitzende Mao hat mehr Bauern auf dem Gewissen – wenn er denn eines besessen hätte – als Hitler Menschen jedweder Provenienz; und auch Stalin vermag in diesen Regionen mitzumischen.

Leute, denen es ganz und gar egal war, wie viele Leute ihnen zum Opfer fielen, oder die sich geradezu in stupenden Opferzahlen erst bestätigt fühlten, gibt es noch weitaus mehr, als man sich gemeinhin eigesteht: schon Lenin war der Meinung, eine Revolution ohne signifikanten Blutzoll sei nicht echt oder ehrlich. Immerhin ging es ihm und seinen Spießgesellen um die Vernichtung ganzer Klassen.

Im Lichte vieler vorhergehender und nachfolgender kleinerer und größerer politischer Massenmörder, von Pol Pot bis Milosevic, wirkt es geradezu puppenstubenhaft, wenn ein Zweig der philosophischen Ethik sich darum bemüht, den Imperativ Adornos, dass Ausschwitz sich nicht wiederhole in ein System zu kleiden, welches den Menschen trotz des Gattungsbruches, den solche Verbrechen darstellen, gemäß dem aufklärerischen gutartigen Bild vom Menschen zu erhalten.

Die Philosophie nach Auschwitz von Rolf Zimmermann scheitert an dieser offenbar so falschen Grundlage: Der hohe Anspruch ist verstehbar, wer möchte schon unter Wölfen leben. Und gleichzeitig funktioniert es ja in vielen Bereichen der Welt zu vielen Zeiten.

Rolf Zimmermann - Philosophie nach Auschwitz

Umgekehrt ist nicht von der Hand zu weisen, dass es kaum eine Weltgegend gibt, in der nicht zu irgendeinem Zeitpunkt die völlige Absenz dieses Ideals zu beklagen gewesen wäre – und wohl noch zu beklagen sein wird, denn besser wird’s voraussichtlich nicht.

Ausgehend von Kant haben schon Hannah Arendt und nach ihr eine Reihe bemühter Denker und Denkerinnen den Menschen als Menschen zu retten versucht. Dennoch dürfte der Lateiner recht behalten, der schon in der Antike im Menschen des Menschen Wolf sah. Eine Latenz barbarischer oder tierischer Eruptionen, die vorher nicht erahnbar und nachher nicht verstehbar sind, ist nicht zu bezweifeln – und gewiss nicht abzuschaffen.

Eine Ehtik, die auf gemeinsamer Vernunftleistung beruhte – und nur eine solche wäre denkbar, denn einen Gott oder oberstes Prinzip als Normungsinstanz haben wir inzwischen erfolgreich abgeschafft -, setzte voraus, dass eben diese Vernunft nicht aus heiterem Himmel aussetzte bei einer genügend großen Gruppe von Durchschnittsbürgern, um den nächsten Pogrom zu veranstalten. Gründe finden sich immer.

Vom Anzünden von Flüchtlingsheimen bis zur reihenweisen Abschlachtung unliebsamer Zeitgenossen erstreckt sich ein schmaler, aber dennoch recht geradliniger Pfad, den bloß auf ein weniges beschritten zu haben noch kein Beweis für grundsätzliche Vernunftfähigkeit ist.

Viele Menschen, und gerade unter den Philosophen eine überdurchschnittliche Menge, scheint sich partout nicht mit der Erkenntnis abfinden zu wollen, dass wir es verdammt schwer haben, gesellschaftlichen Irrsinn auszuschliessen. Sie mißachten, dass dieser Irrsinn einem einzelnen ungleich schwerer fällt als einer ganzen Gruppe.

Die Singularität von Auschwitz taugt als Fanal aber nicht als Ausrede vor der grundsätzlichen Anlage des Menschen, seinesgleichen Unbeschreibliches anzutun. In der Welt der Mörder ist das Falscheste aus unserer Sicht in geradezu simpler Weise richtig, das Böseste gut. Und wir tun uns unenedlich schwer damit, dem ein Gegengewicht in die Balance zu werfen, ohne selber Eiferer einer nicht weiter hinterfragten Doktrin zu werden. Mit Logik ist Idioten nicht beizukommen, mit Ehtik nicht dem Menschen. Das zeigt die erschreckende Vielfalt der Singularität.

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