Die Diskussion nihilistischer Positionen in der Moralphilosophie folgt einem – von vielen Autoren seit Platon’s Gorgias tatsächlich geäußerten – Automatismus: wer A sagt, muss offenbar auch R sagen.
Wer beginnt, die Gültigkeit und Begründbarkeit moralischer Imperative zu hinterfragen und als a priorische Gegebenheiten abzulehnen, wird rasch beim vollkommenen Gegenteil landen. Nicht dass das nicht auch viele der Autoren so gemeint hätten – sehr oft wurde aus einer Ablehnung der Moralfundamente über den Negativbegriff des Nihilismus, präziser: der nihilistischen Moralkritik, eine Forderung, das ‚Böse‘, i.e. das gerade Gegenteil des vom Imperativ geforderten ‚Guten‘ zu tun, abgeleitet.
Der Sophist Kallikles in Platons Gorgias versteigt sich – in Platons Darstellung, einen ‚echten‘ historischen Kallikles können wir nicht ausmachen! – zur Forderung nach egoistischer Befriedigung der Bedürfnisse. Und zwar expressis verbis der Bedürfnisse des Stärkeren, Berechtigten. Denn einen Schwächeren, Unterlegenen, gibt es in diesem Szenario ebenfalls. Wie es später auch Nietzsche drastisch formulierte, gilt diese Ethik für die ‚Herren‘. Wie auch immer die zu definieren wären.
Interessant ist dabei die automatische Entgegensetzung eines Rechts des Stärkeren gegen ein weichlich definiertes, mit der Gloriole göttlichen Segens versehenes Gleichheitsgebot. Heutzutage, nach einem halben Jahrhundert friedlicher Gesellschaftsentwicklung – zumindest in unserem Teil der Welt – nehmen wir das gedankenlos als gegeben an.
Skepsis scheint angebracht: in erster Linie wird es nicht der Begriff eines Rechts des Stärkeren sein, der uns zu interessieren hat. Hinterfragenswert scheint vielmehr sein vermeintlich in westlichen Demokratien und Rechtsstaaten geübtes Gegenmodell. Denn: beruht der relative Friede unter den Menschen auf Einsicht, Vernunft, der Befolgung von moralischen Imperativen?
Oder ist es eine institutionalisierte Androhung der Macht des Stärkeren, die uns alle im Zaum hält? Funktioniert der Rechtsstaat auf der Basis von Einsicht oder Strafandrohung? Verwechseln wir dabei aber nicht die Schafe und die Wölfe: unter den vielen, die keine Scherereien wollen und am liebsten still ihr Leben leben, mag es sich in eins fügen, Einsicht oder Respekt. Bei den verkappten und tatsächlichen Ausbrechern aus der ‚Sklavenmoral‘ zeigt sich jedoch, wie weit es mit den verstandesmäßigen Grundlagen moralischen Lebens her ist.
Unwissenheit kann in den seltensten Fällen ins Treffen geführt werden. Wer die Gesetze übertritt, der weiss das auch, zumindest irgendwo im Hinterkopf. Wir wissen, dass wir falsch parken, zu schnell fahren, in der Steuererklärung mogeln – und zweifelsohne weiss auch einer, der einen anderen erschlägt oder vergewaltigt, welche Normen er dabei übertritt. (Der Fairness halber müßte dieser Satz auch in einer weiblichen Form wiederholt werden.)
Das Unrechtsbewußtsein läßt sich nur mit sehr viel (überstrapazierter) Nachsicht wegreklamieren. Es sorgt also die Allgemeinheit qua staatlicher und behördlicher Autorität für die Einhaltung der Regeln und im Falle eines Übertretens für die Ahndung von Verstößen. Hier herrscht eindeutig ein Recht des Stärkeren. Seine Fundamente sind, wie etwa die asynchrone Auslegung der Gesetze und Rechte bei Asylwerbern zeigt, definier- und dehnbar.
Unser Glück als einheimische Unterworfene unter dieses System besteht in seiner im Grunde harmlosen Natur. Dass allerdings auf derselben verfassungsmäßigen Basis auch eine Diktatur entstehen kann und sich der Maximen bemächtigen, hat die Geschichte des letzten Jahrhunderts gezeigt. Ein gewisser gar nicht so kleiner Rand der politischen Szene driftet verdächtig nah an diesen Gewässern herum.
Das Recht des Stärkeren ist keine abzulehnende moralphilosophische Entgleisung, sondern eine tägliche Realität. Man muss sich als Begründung der momentan bei uns gültigen Auffassung von gesellschaftlichem Zusammenleben etwas anderes einfallen lassen als die bloße Opposition dazu. Wer A sagt, der muss zunächst einmal A akzeptieren.