Die sogenannte wissenschaftliche Weltsicht verdanken wir einigen Griechen. So viel ist common sense. In der Regel denken wir aber nicht groß darüber nach, welche Alternativen es dazu gibt oder gäbe oder vielleicht gegeben haben könnte.
Paul Feyerabend – der Vater des Anything Goes in der Wissenschaftstheorie – hat sich in seinen mittleren Jahren durchaus mit dieser Frage beschäftigt: in seinem Ansatz wird eine vor-wissenschaftliche Weltsicht sichtbar gemacht, die durchaus nicht unbedingt hätte zu der philosophischen Wende im Ionien des 6. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung führen müssen.
Mit seiner Naturphilosophie bezweckte der Querdenker nichts Geringeres, als neben dem wissenschaftlichen Erkennen die Tatsache anderer, deswegen aber nicht minderwertiger Erkenntnisweisen zu setzen.
Um das zu illustrieren, greift Feyerabend weit zurück bis in die Jungsteinzeit, um Weltsicht, Technik und künstlerische Äußerung vorgeblich primitiver Kulturen zu einem vollwertigen Erkenntnis- und Weltbeschreibungssystem zu fassen. Ziel ist es, zu manifestieren, dass andere als die begriffliche Erfassung durchaus auch zu operablen Ergebnissen führen konnte.
Auf das dynamische Weltbild des Steinzeitmenschen folgt der Naturmythos, dessen Übergang in das Aggregatuniversum Homers noch immer nicht zwingend in die Welt der Philosophen leitet:
… sowohl die der Sprache innewohnende Struktur als auch in ihr formulierte Äußerungen, sowohl die Selbsterfahrung des homerischen Menschen als auch die Kritik nachfolgender Philosophen, sowohl die Wissensbegriffe als auch die aktzeptierten Beispiele von Wissen zeigen, dass Wahrnehmung, Denken, Handeln Zug für Zug die Elemente wiederholen, die wir im spätgeometrischen und auch noch im archaischen Stil deutlich sehen konnten. Diese Elemente sind daher nicht bloß eine Ausgeburt künstlerischer Phantasie oder dichterischen Überschwangs. Sie sind Elemente einer Welt, in der der homerische Mensch ebenso lebte, die für ihn ebenso wirklich war, wie unsere eigene Welt heute für uns ‚wirklich‘ ist. Der naive Naturalismus ist damit wiederlegt.
Auch ohne die Begriffe gibt es welterfassendes Denken. Die Fähigkeit zur Abstraktion ist nicht die einzige Möglichkeit, Anordnungen oder Gruppen zu bilden: in Homers Welt ergibt das Nebeneinanderstellen, das Aufzählen von Dingen Bedeutungen, die aus der Reihe der einzelnen Items für uns nicht mehr auf den ersten Blick zu erschliessen ist. Dennoch dienen diese Aggregate dem Festmachen von Bedeutungen in einer Welt ohne Abstrakta und (platonische) Ideen.
Leider ist das Werk Torso geblieben – und selbst den verdanken wir einem zufälligen Archivfund Jahre nach Feyerabends Tod. Ursprünglich, wie dem Briefwechsel Feyerabends zu entnehmen ist, war das Unterfangen auf mehrere Bände angelegt. Doch scheint eine Mischung aus anderen Dispositionen – schließlich entstanden parallel zu und nach diesem ersten Band der Naturphilosophie seine Hauptwerke Wider den Methodenzwang und Erkenntnis für freie Menschen – und der endemischen Arbeitsunlust Feyerabends die Fortführung vereitelt zu haben. Selbst den Abschluss dieses Bandes verdanken wir in erster Linie dem durchaus pekuniär motivierten Bemühen, das Büchlein doch noch zu seiner Publikation zu bringen.
Hier präsentiert sich der bisweilen als enfant terrible der Philosophie verschieene Feyerabend als grundlegender Theoretiker der Früh- und Entstehungsgeschichte der Philosophie, nicht ohne aber die Sprengkraft aus dem Blick zu verlieren, welche das Feststellen alternativer Formen der Naturerkenntnis in scheinbar begrifflosen oder begriffsarmen Kulturen beinhalten mag. Der grundsätzliche Zweifel, den Feyerabend allem und jedem in der schier tiefernsten Welt der Wissenschaften entgegen brachte, und der ihn wohl ursächlich zu seinen Respektlosigkeiten trieb, ist auch hier spürbar, wenn zwar in einer angestrengteren, intensives Arbeiten verratenden Ausformung.