Das ist natürlich meistens so, wenn ein Großer was Halbfertiges hinterlässt. Gustav Mahler hat eine weniger als halbfertige 10. Symphonie hinterlassen, genau genommen ein Adagio, einen ersten Satz – als solcher wird der auch oft und gern eingespielt und dargeboten.
Und wie immer bei hinterlassenen Baustellen gibt es Bemühungen, die auch fort und zu Ende zu führen. In besseren Fällen gibt es den langjährigen Schüler, in weniger Guten den selbstberufenen Vollender. Die Fertigstellung der 10. nach dem Tode des Komponisten wurde so prominenten Zeitgenossen wie Schönberg, Berg, Webern oder späterhin Ernst Krenek angeboten, die allesamt Kenner der Kompositionstechnik Mahlers waren. Irgendwann war auch Schostakowitsch im Gespräch, der jedoch gleichfalls ablehnte. Interessant ist immerhin, was dabei hätte herauskommen können? Eine Mahler-Bearbeitung von Schostakowitsch… sicher ein ebenso interessantes Projekt wie die Schumann-Bearbeitungen Mahlers.
Da scheint zunächst der komponierende Musikwissenschafter die weniger problematische Wahl: die Italiener Nicola Samale und Giuseppe Mazzuca haben 2001 ihre Fassung der 10. fertiggestellt – nachdem sie zuvor schon Bruckners 9. komplettiert haben.
Das Arnhem Philharmonic Orchestra bringt diese Fassung im Konzerthaus unter seinem Ehrendirigenten Martin Sieghart zu Gehör. Hier sollte man eigentlich in eine enthusiastische Diskussion zu einem beeindruckenden Stück Musik verfallen können. Doch dass man davor sechs Petitessen – in Gestalt von 5 Liedern (gesungen von Ingrid Kaiserfeld) – der unseligen Alma Mahler ins Programm hievt, deren einzige Funktion es offenbar ist, einen ersten Teil von so etwas wie einer überdehnten Viertelstunde Länge zu bilden, damit man danach in die Pause gehen kann, tut ihrem Mann bitter Unrecht – wie sie selbst es aber auch zeitlebens in persona getan hat. Schwamm drüber.
Man wartet auf den den richtigen Mahler – und der tritt dann mit weniger Wucht als vielmehr ausgeprägt lyrisch an. Das einleitende Thema der Bratschen baut sich nur langsam über großen Intervallsprüngen auf, die auch weiterhin kennzeichnend für das Adagio bleiben. Die Gedankenbögen erstrecken sich weit hin, insgesamt drei melodische Elemente werden entwickelt und verwoben, ehe der Satz im pianissimo verklingt.
Polternd wie unter genagelten Bauernschuhen hebt der zweite Satz an, das (erste) Scherzo, und hier klingt die Verarbeitung des ländlichen Motivs noch roh, als hätte Mahler zwar schon detailliert den Gedanken notiert, jedoch harrte es noch der Aufbereitung und Transformation in seine gewohnte, von sublimerer Behandlung geprägte Instrumentierung.
Der dritte Satz ist kurz und bündig, ein Allegro moderato von bemerkenswerter innerer Steigerung, beginnend im ruhigen tutti der Streicher, jedoch bis zur verzweifelten Expressivität gesteigert – überschrieben ist die Skizze des Komponisten mit „Purgatorio oder Inferno“…
Der vierte und fünfte Satz sind in Mahlers Konzeption nur sehr rudimentär vorgezeichnet, das thematische Material stammt aus dem dritten – doch hat er auch hier schon die essentiellen Ideen notiert: den mephistophelischen Walzer, der das (zweite) Scherzo der Symphonie durchzieht, der Bezug auf das „Lied der Erde“ und seinen Grundgedanken Dunkel ist das Leben, ist der Tod, der Schlag der gedämpften Trommel, mit dem der Satz seinen Abschluss findet, der an ein Begräbnis erinnern mag.
Das Finale beginnt zunächst in verhaltenem d-moll, langsam, mit Stimmungen, also recht unklarem, aber von Gefühlen unterwogtem Material, um in einem schnellen Mittelteil einem vorläufigen Höhepunkt zuzustreben, der die deutliche Sprache von Mahlers nicht aufgelösten privaten Problemen (mit eben jener Alma) spricht: eine Art von schmerzerfülltem Aufschrei über eine schon im ersten Satz präsente Dissonanz, die hier aber zum gequälten Höhepunkt aufbricht, an die nur noch ein Nachhallen in den Bratschen des Kopfsatzes anschliessen kann. Doch auch dieses Nachlassen und Verklingen lässt sich breit an und vor allem Zeit.
Das Werk hinterlässt einen recht ähnlichen Eindruck und den Hörer in einer vergleichbaren Stimmung zurück wie Mahlers andere große Symphonien. Im Detail hat man manchmal den Eindruck des Selbstzitats, was aber vielleicht der Rekonstruktion geschuldet ist, die ja nur am Vorhandenen sich bilden kann. Bisweilen auch klingt das eine oder andere wie nicht ganz fertiggestellt, als würde der Genius des Meisters hier noch Hand angelegt haben, hätte das Schicksal ihn gelassen.
Aber wie bei allen Rekonstruktionen und Fertigstellungen kann man nie ganz sicher sein, was man da hört. Es klingt recht glaubwürdig wie Mahler, insoferne darf es seinen Platz in der Konzertliteratur beanspruchen – da gibt es durchaus eine namhafte Reihe von Komponisten, die das nicht zu Wege brachten, was Mahler da fragmentarisch hinterlassen hat und der Komplettierung anderer anheim stellen musste.
Siehe auch: wikipedia zur 10.