Der Philosoph Martin Heidegger hat eine kurze, doch stringente Biografie: kleinstädtisch und streng-gläubig katholisch erzogen, ereifert er sich für die Kirche. Sein fragwürdiger Charakter jedoch verhindert, dass ihn zuerst die Jesuiten als Novizen und dann die Kirche als Priesterschüler aufnehmen, als Ausweg wählt er dann die – wiederum katholische – Philosophie. Von seiner Kirche lässt der aus kleinen Verhältnissen stammende Heidegger sich sein Studium finanzieren. Nachdem alsbald da nichts mehr zu holen ist, wendet er sich von der Kirche ab, unter dem Einfluss seiner Frau zunächst von der katholischen, in weiterer Folge überhaupt vom christlichen Glauben. Er entdeckt in der Metaphysik seine individuelle Ersatzreligion, verbeißt sich etwas, das er als die allerletzte Grundfrage – die nach dem Sein des Seienden – empfindet.
Die Idee von der Geworfenheit in dieses Leben macht seine Denkansätze in den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts gegenüber den ausgelaugten Strömungen der deutschen Universitätsphilosophie zu einer geradezu hochmodernen Position. Das erklärt vielleicht die hohe Popularität seiner Positionen, zudem dürfte er ein eigenwilliger, Spannung erzeugender Vortragender gewesen sein. Die Liste seiner Schüler und Schülerinnen liest sich beeindruckend: Karl Löwith, Günther Anders, Hannah Arendt, Hans Jonas und kurzzeitig auch Herbert Marcuse. 1927 erscheint sein einziges zu Lebzeiten publiziertes systematisches Werk, und davon nur der erste Teil: Sein und Zeit. Er wird es nie fortsetzen, offenbar, weil ihm nicht möglich ist, den in der Einleitung gegebenen Ausblick auf den zweiten Teil einzulösen. Er kann die Problematik des Seins stellen, sie aber nicht auf den Weg zu einer Lösung bringen.
Da der Philosoph absurderweise aber nicht ohne Glauben auskommen kann, wird er im Gefolge seiner Frau Nationalsozialist, entwickelt seine Seinslehre weiter zu einer Heilslehre des deutschen Volks und agitiert für den nationalen Wandel der deutschen Gesellschaft – nach der Machtübernahme 1933 reißt er sogar das Rektorat der Universität Freiburg an sich, um die Wandlung der Universität zur nationalsozialistischen Elitenbildung voranzutreiben. Er scheitert jedoch sowohl an der Renitenz der Universität gegenüber diesen allzu radikalen Bemühungen als auch an der Indifferenz der Nazibürokratie, die mit dem Privatnationalsozialismus Heideggers wenig anfangen kann.
Nachdem er sich enttäuscht zurückgezogen hat, wendet er sich Nietzsche – erstaunlicherweise dem obskuren Kompilat Der Wille zur Macht – zu, und entdeckt Hölderlin für sich: indem er am Verstehen des Seins mehr und mehr scheitert, betrachtet er die Welt als nur dem Dichter zugänglich, der sie schlussendlich auch erfindet. Heidegger selbst setzt fort, was er schon in Sein und Zeit begonnen hat, indem er beständig neue Worte prägt, um sich auszudrücken. Dass mit einer immer ausgefeilteren Kunstsprache immer weniger auszusagen ist, entgeht ihm dabei. Dieser Stil aber führt offenbar langfristig dazu, dass die Hohlheit des Denkens kaschiert und der Philosoph Heidegger als schwierig und damit wohl auch bedeutend wahrgenommen wird.
Jeder Versuch, Heideggers Sprache in normale Sprache zu übersetzen, führt zu großflächiger Banalität – ergo bleibt nur, was er selbst auch dem Sein, neuerdings Seyn geschrieben, nachsagt: man muss warten, bis es sich entbirgt. Heidegger ist in diesem Stadium, also noch vor dem Weltkrieg, am Endpunkt des Philosophierens angelangt: er fordert Glauben.
Nach dem Krieg stellt er sich als Opponent des nationalsozialistischen Systems und sogar innerer Emigrant dar, doch ist es wohl so, dass ihm in Wahrheit der real existierende Nationalsozialismus nicht weit genug ging und nicht konsequent und radikal genug war. Die Nazis hatten anderes im Sinn als einer unverständlichen Spezialphilosophie zur Macht zu verhelfen – da waren sie selber und nisteten sich dauerhaft ein.
Man kann bestimmt nicht sagen, dass Heidegger kein Nazi gewesen ist; dazu hat er in seinem Rektoratsjahr allzuviel Porzellan zerschlagen. Auch der Versuch, ihn posthum zum Widerständler oder zumindest inneren Emigranten zu stilisieren, wie er das selbst angeregt hat, muss scheitern – nachzulesen in Holger Zabrowskis bemühtem Buch.
Weitaus interessanter als die Frage, ob Heideggers Charakter der eines naiven oder eines bösen Menschen gewesen sei – das hat die Geschichte bereits beantwortet -, ist diejenige nach der philosophischen Relevanz eines Denkers, dessen Sprache sich ihm während des Sprechens verwirrte… Bei Aristoteles geht sich das Reden über Unbenennbares noch aus, seine Sprache bleibt innerhalb ihrer Grenzen, bei Heidegger schließlich ist in extremis der andere Endpunkt erreicht, an dem das Unsagbare jenseitige Worte gebiert, die diesseits keine Bedeutung haben.
Man kann Heidegger auf das reduzieren, was er vermeintlich gemeint habe. Er gehört zu den Vätern der Existenzphilosophie. Aber die hat sich als totes Ende erwiesen. Heidegger hat in seinen Studientagen als Phänomenologe gelernt, seinen Lehrer Husserl aber bald verworfen – was schade ist, denn im Lichte der jüngsten kognitions- und gehirnwissenschaftlichen Erkenntnisse gerät die Phönomenologie wieder verstärkt ins Interesse bei deren philosophischen Verarbeitung.
Muss man Heidegger noch lesen? Zum Aufrechterhalten der eigenen geistigen Gesundheit sollte man es eher unterlassen. Denn nicht alles, was im Kanon der Philosophie herumsteht, ist auch wichtig. So läuft man auch nicht Gefahr, sich mit den garstigen Seiten dieses Autors herumschlagen zu müssen. Heidegger ist nicht wichtig, aber viele, die sich an ihm abgemüht haben, können offenbar nicht eingestehen, dass es fruchtlos war.