Ein gewaltiges Stück: der Farnace von Antonio Vivaldi erstreckt sich über die an sich schon barocke Dauer von vier Stunden, schlägt aber trotz nicht-szenischer Aufführung einen zwingenden Spannungsbogen. Was dem prete rosso oft – und schon zu Lebzeiten – vorgeworfen wurde, nämlich ein oberflächlicher Serienkomponist von wenig geistreichen Opern zu sein, gilt ganz offenbar für sein bekanntestes Bühnenwerk nicht.
Auffällig zuallererst ist die gefühlvolle und variantenreiche Instrumentierung sowie der – gemessen an dem in unseren Tagen höher geschätzten Händel – geradezu reichhaltige Formenkanon: Vivaldi setzt gleich zu Beginn seiner Handlung auf zwei kräftige Akzente vom Chor, komponiert aber späterhin im zweiten Akt ein Duett und im Dritten ein Quartett sowie einen veritablen Ensembleschluss, wie er gemeinhin erst aus späteren Epochen bekannt ist – jedoch findet sich solches zeitgleich auch bei Johann Joseph Fux am Wiener Hof. Beide Komponisten starben übrigens im Jahre 1741 in Wien, der eine als kayserlicher Hof-Compositeur, der andere als vergessener, verarmter Priester auf der Suche nach einer zweiten Karriere.
Der Originalklang-Experte Stefano Molardi bringt ein hervorragend besetztes, ausgewogenes Sängerensemble mit nach Wien. Es ist tatsächlich schwer, mit einer oder einem von ihnen zu beginnen, ohne das vielleicht eher nach Bekanntheit als Leistung zu tun. Daher zuerst das Orchester: I Virtuosi delle Muse, 2003 vom Dirigenten und seinem Konzertmeister und Violinsolisten Jonathan Guyonnet im lombardischen Cremona gegründet, feiert auf Originalinstrumenten den weichen, unprätentiösen Klang einer Zeit, da auch die Musik noch nicht von Effizienz getrieben war. Die Darmsaiten dürfen ihr eigenes Timbre schwingen lassen – und brauchen mehr Hingabe beim Stimmen -, die Naturtrompeten und Parforcehörner müssen nicht schmettern…
Vivaldi aber ist ein Meister der Streicher: wiewohl er den Arienvorspielen keine echte Mehrstimmigkeit antut, wechseln die Violinen gekonnt und flüssig zwischen unisono und kurzen zweistimmigen Passagen, ziehen sich auf eine sparsame Akzentuierung der Sänger zurück, und vermögen in diesem von Pausen in echte Spannung versetzten Untergrund zu verweilen, obwohl man bei gewissen vivaldi-typischen Kombinationen ein Crescendo erwarten würde…
Überhaupt ist die Interpretation von Stefano Molardi auf Reduktion, Langsamkeit, ja geradezu Pausenhaltigkeit getrimmt. Das tut dem Farnace aber wirklich und wahrhaftig gut. Einige der schönsten Arien der Oper sind nachdenklich, langsam, in leisten, ziselierten Tönen geschrieben. Die Pausen der leisen Töne machen die Intensität und Spannung dieser Musik aus.
Und diese beherrscht allen voran Mezzo Marina de Liso als unter dem Wüten ihres Mannes leidende Königin Tamiri. Der, Farnace, gesungen von der Altistin Sonia Prina – die hier schon mehrfach gelobt wurde in Händels Ezio und für die Trionfo-Einspielung unter Emmanuelle Haïm – ist, wie sein Vater Mitridate, am Verlieren gegen die Römer, betrauert sein untergegangenes Reich und versucht in seiner Verblendung, Frau und Sohn in den Tod zu schicken. Sonia Prina singt einen kraftvollen Ton und legt, bei großem Stimmumfang, viel Dramatik in die Rolle.
Großartig und wirklich perfekt an diesem Abend die zweite Mezzosopranistin Lucia Cirillo als Selinda: es ist ein Vergnügen, zuzuhören, wie eine ausdrucksvolle Partie auch ganz ohne Vibrato gemeistert werden kann. Ganz anders, lebhaft, presto, die Berenice von Maria Grazia Schiavo – die ich ja schon 2008 anlässlich des Ariodante besonders hervorgehoben habe: sie agiert heute ein wenig affettuoso, doch singt sie eine selbstbewusste, ganz ohne Zorn, geradzu kühl, auf Rache zielende Königin.
Läse man nicht die Inhaltsangabe, könnte man die Rolle des Gilade für die einer Königstochter halten: ihre Arien sind mit zahllosen Koloraturen gespickt, dass man sich fast schon bei Mozart angekommen wähnt, bis an die Grenze gehend – aber eben auch keinen Ton weiter oder gar darüber hinaus – verziert, brilliert Sabina Puértolas mit schelmischer Jugendlichkeit – und sollte genau genommen ein Hauptmann aus der Garde der Berenice sein, Opfer der Umgarnungsversuche von Selinda… Ihr mädchenhafter Charme lässt aber rein gar nichts Martialisches aufkommen.
Die Römer schliesslich, die Tenöre Robert Getchell als Präfekt Aquilio und der schwedische haute-contre Anders J. Dahlin als siegreicher Feldherr Pompeo kommen in dieser Frauenriege – man möchte sagen: naturgemäß – weniger zu Wort, doch tun sie dies mit tenoraler Rafinesse.
Beginnt dieser Farnace kriegerisch mit ausdauernden Paukenwirbeln, so endet er versöhnlich im Chor der Damen. Er dauert zwar auch sehr lang, ist mir aber selbst konzertant lieber als jeder Wagner in szenischer Ausbreitung. Dem Theater an der Wien ist für diese Serie wieder und wieder zu danken!