Das Dilemma mancher philosophischer Haarspaltereien ist auch durch die Wissenschaft nicht zu beheben – leider auch nicht in scheinbar so essentiellen Fragen wie der nach der Existenz der Außenwelt und ihrer Wahrnehmung.
Immerhin sollte man annehmen können, die Neurobiologie wäre inzwischen auf dem Weg, uns diese Fragen zu klären. Aber weit gefehlt, denn was dabei herauskommt, ist keineswegs angetan, die Streitereien einem Ende näher zu bringen.
Gerhard Roth hat den Stand der Dinge – wie sie zumindest im Jahre 1997 lagen – in seinem Buch Das Gehirn und seine Wirklichkeit: Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen ausführlich zusammengefasst und gleich auch die philosophischen Implikationen untersucht:
Jene Teile, die eine fundierte Übersicht über den Wissensstand der Neurobiologie zur Funktionsweise von Gehirn und Wahrnehmung geben, sind allerdings nur beschränkt mit Gewinn zu lesen; sollte dem Autor daran gelegen gewesen sein, darzustellen, wie komplex das alles ist, so kann man den Versuch zweifellos als exzellent gelungen bezeichnen. Zu verstehen ist das nur an jenen Stellen, da er sich um Zusammenfassung bemüht.
Hierin aber ist Roth großartig: man gewinnt den Eindruck, etwas Essentielles gelernt zu haben, auch wenn die Neurobiologie selbst noch keineswegs – aber welche Wissenschaft wäre das schon? – bis ans Ende ihrer Erklärungen gelangt ist. Und ein solches ist wohl auch noch lange nicht absehbar.
Das Kernproblem jedoch bleibt uns erhalten: auch wenn die Biologie – natürlich! – feststellt, dass unser Gehirn eine elektrisch-chemische ‚Maschine‘ ist, ein selbstorganisierendes System, aber durch und durch ganz ungeheimnisvoll biologisch, dann fehlt manchen Denkern der höhere Wert. Es kann doch nicht sein, dass sich Geist auf einen Klumpen Fleisch – oder halt andere Zellen – reduzieren lässt…
Im Grunde dürfte aber genau das der Fall sein: das Gehirn ist ein hochkomplexer lebender Apparat, mehr wird da nicht zu finden sein. Der Dualismus von Körper und Geist ist demgegenüber in noch höherem Maße eine inwändige Angelegenheit als es die Konstruktion der Welt im ganzen ist; die funktioniert nämlich ganz offenbar auch ohne das Konstrukt Geist.
Damit sind wir auch im Kern der neurobiologischen Erkenntnisse: das Gehirn kommt an Daten über die Außenwelt nicht wirklich heran; sämtliche Reize, die man so interpretieren könnte, werden im Laufe ihrer Verarbeitung hochgradig komprimiert und sogar in eine hinsichtlich ihrer Quelle nicht mehr unterscheidbare einheitliche Sprache gebracht. Visuelle, audielle und andere Reize werden intern vollkommen gleich codiert und verarbeitet, sie unterscheiden sich gerade noch in jenen geografischen Regionen des Gehirns, an denen sie verarbeitet werden. Das Gehirn ist somit darauf angewiesen, einen Teil der Information zu berechnen, aus seinen Speichern, dem Gedächtnis, zu ergänzen. Wahrnehmung, jedenfalls aber das im Gehirn entstehende Produkt davon, ist mithin artifiziell.
Wir konstruieren unsere Wirklichkeit – unser Gehirn erledigt das für uns.
Und das ist wohl gut so: denn wir können stets nur Ausschnitte der Realität auch wirklich verarbeiten. Man könnte sich das so vorstellen, als wäre alles und jedes, jeder Gegenstand – um damit zu beginnen –, mit einer Stimme ausgestattet und redete beständig auf uns ein: „Ich bin der Schreibtisch!“ – „Ich bin das Notebook!“ – „Ich bin die Maus!“ Ohne Unterlaß sendet jedes Ding solche Botschaften an unser Gehirn, bis hinunter zu den siebenundzwanzig verschiedenen Notizzettelchen und den Bleistiften und Büroklammern, wieder und wieder die gleiche Botschaft der eigenen Existenz (und dabei gehen wir noch gar nicht auf die Spezifika all dieser Gegenstände ein).
Wie würden wir wohl zurecht kommen in diesem auf das Hören umgelegten Beispiel, in dieser Kakophonie von Existenzbehauptungen? Wir müssten uns rasch angewöhnen, das meiste davon zu überhören!
Genau das tut auch unser Gehirn. Es versucht, anhand ganz weniger Punkte zu erkennen, dass wir uns an unserem Schreibtisch in unserem Arbeitszimmer befinden, um alles weitere dem Gedächtnis zu überlassen und die wesentliche Energie auf das zu konzentrieren, was wir gerade tun: dieses Posting schreiben oder lesen etwa.
Der garstige Graben aber, der die Wahrnehmungswelt – wollen wir sie einmal die Wirklichkeit nennen – von der real existierenden Außenwelt – wollen wir diese die Realität nennen – trennt, ist damit aber unter keinen Umständen zuzuschütten oder auch nur zu überbrücken. Jene Version der Wirklichkeit, die in uns entsteht oder besteht, ist unmöglich auf die Realität draußen zurückzuführen. Zusammenhänge sind – nachgewiesenermaßen – nicht herzustellen. Unsere Welt, und damit natürlich auch alles, was davon Gegenstand von Wissenschaften sein kann, ist samt und sonders konstruiert.
Nicht Thema der Neurobiologie ist hingegen die Frage, ob die Realität – die Welt da draußen – existiere oder nicht. Sie wäre auch, nach Schlick, blanker Unsinn.
Wir müssen uns damit abfinden, dass unsere Wirklichkeit nur ein – mehr oder minder trügerischer – Ausschnitt aus der Realität ist. Wobei das, im Falle der Neurobiologie, sogar rekursiv ist: auch ihre Erkenntnisse sind Erkenntnisse in der Wirklichkeit der Gehirne, derer, die forschen, sowie derer, die Forschungsberichte lesen, und eben keine Erkenntnisse der Realität.
Wir können auch darüber nicht sinnvoll reden, ob es ein echtes Gehirn in der Realität gebe, das sich in seiner Wirklichkeit ein Wirklichkeitsgehirn erschafft, um es zu untersuchen – nach Wittgenstein fiele das in die Kategorie jener Dinge, von denen man beim wissenschaftlichen Reden eben nur schweigen könne. Aber lassen wir einmal die vollkommen absurde Ansicht beiseite, dass außerhalb unserer Wahrnehmung – und der in ihr konstruierten Wirklichkeit – nichts weiter sei…
Gehen wir vielmehr davon aus, dass es zumindest ein Ausschnitt der Realität ist, der sich in unserer Wirklichkeit widergespiegelt findet. Denn auch die Philosophie ist schlussendlich eine Erscheinung dieser in unserem Gehirn konstruierten Wirklichkeitswelt! Roth fasst das am Ende seines Buches so zusammen:
Letztlich ist jedes Nachdenken über die objektive Realität, sei es wissenschaftlich oder nicht, an die Bedingungen menschlichen Denkens, Sprechens und Handelns gebunden und muss sich darin bewähren. Deshalb sind die Konstrukte unseres Gehirns nicht willkürlich.
Alle Wissenschaft ist an die Bedingungen der Wirklichkeit, in der sie stattfindet, gebunden. Insoferne hat sich seit Kant nicht ganz so viel verändert, wie man annehmen möchte; andererseits aber doch so viel, dass man Kant nicht mehr unbedingt gelten lassen kann.
Ein Gedanke zu “Die Bedingungen der Wirklichkeit”