Die Gründe, warum das Werk es bei der Uraufführung auf gerade mal vier Abende brachte, mögen vielfältig sein – zahlreicher aber sind die Gründe, es heute zu spielen: im Serse hat Georg Friedrich Händel nicht nur Nummern von stupender Musikalität komponiert, er hat auch rein formell die erstarrte opera seria hinter sich gelassen.
Die Rezitative sind kürzer und vielfach ganz weggelassen, stattdessen weist das Vorantreiben der Handlung auch in den Arien bereits deutlich in die Zukunft der Gattung. Bei den Franzosen seiner Zeit nahm Händel die Anleihe, den Chor häufiger einzusetzen. Die Arien geraten ihm kürzer, manches da capo fällt notwendigerweise dem Fortschritt der Liebesangelegenheiten zum Opfer.
Im Theater an der Wien stellt Adrian Noble – der sich bekanntlich bei der Alcina der Staatsoper in offenbar namensgeschuldeter Zurückhaltung übte – den Liebestaumel Perserkönigs auf die Bühne. Und es gelingt ihm diesmal sogar, eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen.
Zumal dieses Libretto simpel und nachvollziehbar gestrickt ist: der Großkönig verliebt sich in eine, die ihn nicht sondern seinen Bruder will; wohingegen der von ihrer Schwester begehrt wird. Durch Intrigen, Betrug, Liebeswerben und manche Hartherzigkeit hindurch behält die Liebe ihre Oberhand. So weit, so belanglos.
Die Regie lässt ihren Darstellern viel Freiraum, sie dürfen situative Komik entwickeln, das Possenhafte der Geschichte in die ernste Oper durchschimmern lassen. Entgegen dem Bemühen des Komponisten, das Fortschreiten des Geschehens zu beschleunigen und gegen die althergebrachte Starre der Nummernoper zu setzen, betont Mr. Noble die alte Nummernhaftigkeit just dadurch, dass kaum je Szenen entstehen, weil er jedweden auftreten und nach dem letzten Ton sogleich wieder abgehen lässt, so als hätten wir’s mit einer Art Wettsingen zu tun.
Man merkt, dass weder der Regisseur noch sein Bühnenbildner – diesmal ist es der aus London mitgebrachte Frankfurter Tobias Hoheisel – mit barocker Oper etwas anfangen können. Sie arbeiten konsequent gegen den Strich einer ohnedies wenig zwingenden Handlung.
Grandios dafür die Sängerinnen und Sänger: es fällt schwer, hier die oder den besonders vor den Vorhang zu rufen. Gegen die Besetzung der Alcina in der Staatsoper zu Anfang dieser Saison sind sie nachgerade überirdisch.
Die bildhübsche Schwedin Malena Ernman hat endlich die Titelrolle, die sie in der Rodelinda noch nicht hatte, dafür ist die großartige Danielle de Niese diesmal flankierend tätig – aber was für eine Spielfreude sie dabei an den Tag legt! Es sind geradezu burleske Momente, die sie wie spielerisch in die komplexe Partie der Atalanta verpackt, Augenblicke hinreißender musikalischer Komik, die bis in den Dialog mit einzelnen Instrumenten reicht. Ihr Metier sind die ausgefeilten Koloraturen, hintersinnige Pausen und spaßige Gesten – und die hohen Töne!
Überhaupt hat der musikalische Leiter der Aufführung, der korsische Dirigent Jean-Christophe Spinosi, erheblich Raum geschaffen für spitzfindige Ausdeutungen, kleine Freiheiten und gesangliche Gags, die dem Werk ganz und gar nicht schlecht anstehen.
Betörend und jugendlich frisch singt die Slowakin Adriana Kucerova die heldenhaft treue Romilda mit perfekter Stimme, ohne jegliches Vibrato, kraftvoll und präzise, klar auch in den leisen Partien. Ich habe dieses Ausnahmetalent bereits seinerzeit im Stravinskij zu schätzen gewusst.
Star Bejun Mehta muß zunächst witterungsbedingt als erkältet angesagt werden, steht aber die Vorstellung ohne jeden Makel durch – vielleicht wäre noch mehr Brillanz und Volumen drin gewesen, man ist ja doch erhebliche Leistungen von ihm gewohnt, doch alles in allem gelingt ihm ein Auftritt hoher Klasse.
Die bezaubernde chilenisch-schwedische Mezzosopranistin Luciana Mancini singt eine wunderbar geschmeidige Amaste: mit Witz, mit Schmelz und Schmerz, einfach perfekt!
Weniger Text haben die Bass-Baritone: Anton Scharinger hat als Ariodate kaum drei Szenen, doch auch er glänzt mit sauber erarbeiteter Gestaltung und langem Atem; der ins Komische tendierenden Dienerfigur Elviro verleiht Andreas Wolf burleske Züge und gediegene Stimme, obgleich die Figur in Handlung und Personal der Oper eher einen Fremdkörper darstellt.
Wenn man also von einer eher unbedarften Inszenierung, seltsamer Ausstattung und unmotivierte Akzente setzendem Licht absieht – was alles zusammen jedoch keineswegs ernsthaftes Störpotential zu entwickelt vermag -, so ist es ein großartig barocker Abend geworden! Nicht zuletzt tragen dazu das Ensemble Mateus – fein austariert und mit ausgesuchter Finesse – sowie der Arnold Schönberg Chor das ihre bei.