apocolocynthosis Serseni

Etwa im Jahre 54 u.Z. hat Seneca einen bitterbösen Nachruf auf den Kaiser Claudius verfasst, den er mit dem griechischen Neologismus apocolocynthosis – also etwa: Verkürbissung – betitelt hat, klar in Anspielung auf die Apotheose des verstorbenen Kaisers.

So eine Verkürbissung gereicht natürlich niemandem zur Ehre und ist das gerade Gegenteil des nil nisi bene.

Wenn Georg Friedrich Händel sich in einer seiner Opern einer historischen Figur annimmt, dann ist das allemal eine ausgewachsene Verkübissung: selbst arg liebestollen Vorbildern aus der Geschichte kann man nicht zutrauen, sich auch nur annähernd so abstrus zu verhalten wie die Figuren in den Libretti der Händel’schen Opern.

Regeln für das geistige Wohlergehen des Opernfreunds #1
Libretti sind blöd. Es ist gut, dass sie sich einer Sprache bedienen, die man nur ungenügend versteht.

Das ist für deutschsprachige Opernfreunde am allereinfachsten an Richard Wagner und seinem Ring festzumachen: die Dichtung ist haarsträubender Unsinn. Was nicht ausschließt, dass man in einen solchen Haufen Unsinn etwas hinein-geheimnissen oder aus ihm heraus-stierln kann… Das gleiche gilt für die Texte in den meisten Opern, schon gar denen des Barock. Eine Eindeutschung ist umso fataler, je genauer sie die Handlung des Originals spiegelt.

Die Wiedergabe in Originalsprache hilft uns meistens, eine gewisse Unschärfe zwischen die Texte und ihrem Verständnis zu legen, denn auf Italienisch klingt manches gut, was dem Wortsinn nach gelinde gesagt Schwachsinn ist. Bei Wagner ist das Deutsch so verdreht, dass man gut damit leben kann – wenn einem der Schmarren nicht per Untertitel mitten ins Bild gesetzt wird. Das tut dann weh und ist geeignet, eine noch so gute Aufführung zu zerstören. Zum Glück kann man bei DVDs und Blue Rays die Untertitelung abschalten.

Ja, diese Texte sind wirklich so dumm. Wenn man daher eine der großen Opern Händels in deutscher Fassung spielt, ist für den Zuhörer die Fassung nur schwer zu behalten. Es ist schlichtweg eine Zumutung.

Regeln für das geistige Wohlergehen des Opernfreunds #2
Um der Handlung zu folgen, reicht eine grobe Inhaltsangabe.

Man kann sich getrost zurück lehnen: es passiert schon nichts, was man verpassen könnte.

Diese Erkenntnisse verdanke ich einer Aufführung des Xerxes an der Grazer Oper, die ihrerseits eine Übernahme einer Produktion der Komischen Oper Berlin ist.

Dabei ist die deutsche Einrichtung durch Eberhard Schmidt noch nicht einmal schlecht.

Ich sitze also da in der Grazer Oper – weitaus bequemer als in den beiden Wiener Häusern, das sei lobend hervor gehoben – und lausche der Ouvertüre und der Auftrittsarie des Xerxes: Mezzo Stephanie Houtzeel singt ein leidlich gutes Ombra mai fu. Die Seele stellt sich auf einen genussreichen Abend ein, dessentwegen ich ja den Ausflug in die steirische Metropole überhaupt unternommen habe.

Und dann: ein Recitativo auf deutsch? DEUTSCH? Moment… da wird allen ernstes deutsch rezitiert und gesungen! Die folgende Arie gleich auch! Damit wäre der Abend eigentlich ruiniert und durch vorzeitigen abruptus zu beenden! Da ich aber gemeinhin nicht mittendrin verdufte, gilt es offenbar, den ersten Akt bis zur Pause durchzuhalten.

Ich stelle mir die Frage: wo bin ich da hingeraten? Nach Tschernowitz? In die Volksoper? Auf jeden Fall ins Fegefeuer, will mir scheinen. Irgendwas muss ich verbrochen haben.

Regeln für das geistige Wohlergehen des Opernfreunds #3
Die meisten Inszenierungen gegen den Strich sind zum Scheitern verurteilt. Aber nicht jede.

Gar viele Inszenierungen versuchen sich daran, ein Stück gegen den Strich zu bürsten. Das geht recht oft schief, aber eben nicht immer. Es ist halt die Frage: wie viele Fehlversuche tut man sich an, um die wenigen Perlen zu finden?

Regeln für das geistige Wohlergehen des Opernfreunds #4
Der Humor von Regisseuren bringt in den seltensten Fällen etwas hervor, das man im gewöhnlichen Sinne des Wortes als lustig bezeichnen könnte.

Bei Komödien steht ja nachgerade die Forderung im Raum, sie auch als solche umzusetzen. Bei Barockopern ist dies nicht zwangsläufig eine Anforderung. Die meisten von ihnen, schon gar die aus der Feder Händels, sind keine Komödien. Es ist also eine Kombination des Problems des Gegen-den-Strich-Bürstens mit dem der Verlustigung, die sich hier addieren und gar zu potenzieren drohen.

Beim Humor von Regisseuren kann man im Wesentlichen zwischen den Ausprägungen brachial, dumm, altbacken und – als absoluter statistischer Ausreißer – genial unterscheiden. Was hier von Stefan Hernheim anhand des Xerxes geboten wird, verlässt recht schnell die Anmutungsbereiche dumm und altbacken. Es dauert keine halbe Stunde, und das Konzept geht auf: nach und nach wird klar, dass es sich um eine Verlustigung der Kategorie genial handelt.

Regeln für das geistige Wohlergehen des Opernfreunds #5
Manches darf man dem hehren Kulturgut durchaus antun.

Es handelt sich bei diesem Xerxes um eine völlig abgedrehte Kasperliade. Ja, es gibt auch Gags, die eher in die Schublade Otti Schenk passen, aber die sind zum Glück in keiner Weise tragend – vermutlich aber applausfördernd, siehe weiter unten. Kern des Konzepts ist eine fortwährende Steigerung vom Humorösen ins Irrwitzige. Daher braucht es auch ein Wenig, bis der Zuhörer die Sinnhaftigkeit anzuerkennen gezwungen wird, warum man hier (überwiegend) deutsch singt. Es gehört ins Konzept, es ist absolut notwendig, dass man das Gesagte und Gesungene versteht, der gehirnkrampfende Text ist Teil des Irrwitzes! Es dauert ein Weilchen, bis das einsickert und sich zur Gewissheit manifestiert.

Und dann macht die ganze Chose mehr als nur einfach Sinn. Ich habe mich schon sehr, sehr lange nicht mehr so königlich amüsiert, nicht nur in der Oper.

Man frage nicht: dürfen’s denn das? Wenn’s nur gelingt, dürfen’s alles! Und die apocolocyntosis des Königs Xerxes ist gelungen.

Regeln für das geistige Wohlergehen des Opernfreunds #6
Über die Ausstattung sollte man hinweg sehen. Meistens.

Ein substantieller Teil dieses Erfolgs ist aber auf jeden Fall Kostümbildnerin Gesine Völlm zuzuschreiben. Die Eskalation des Lustigen wird kongenial begleitet von einer Eskalation des Dress Code, der sich alsbald mit den besten Zeiten des pompösen amerikanischen Show Stils messen kann. Vielleicht sind ja Barock oder Rokoko und Las Vegas gar nicht so weit voneinander entfernt. Die Kostüme sind hier jedenfalls ein nicht zu ersetzender Teil des Gesamtbilds, ja in der Zuspitzung auf das Irrwitzige illustrieren sie, wo wir grade stehen.

Regeln für das geistige Wohlergehen des Opernfreunds #7
Eine gelungene Aufführung macht rundum glücklich.

Und hier ist es nun endlich an der Zeit, das Haupt zu neigen vor dem Ensemble: Konrad Junghänel hat diese Fassung musikalisch aufs beste eingerichtet, es gibt nichts zu meckern. Auch nicht am Grazer Philharmonischen Orchester, wo man doch als Wiener inzwischen die besten Barockensembles der Welt zu frequenten Gästen zählt. Nein, sie machen das exzellent.

Neben der Hauptdarstellerin tritt ein im Wesentlichen junges Ensemble an, das trefflich seine – mehrheitlich: – Frau zu stehen versteht: Margareta Klobucar und Tatjana Miyus stellen das Schwesternpaar Romilda – die begehrte – und Atalanta – die begehrende – auf die Bühne. Gemäß Regel #2 reicht das als Inhaltsangabe. Sie singen ganz und gar barock, kein störendes Vibrato, ohne Ausritte ins Belcanto, was ich ehrlich gesagt so perfekt gar nicht erwartet hätte. Mea culpa, mea maxima culpa.

Ganz und gar hinreißend singt Xiaoyi Xu die Amastris: man wird sich den Namen merken müssen, und nicht bloß, weil es sonst kaum Sängerinnen mit X gibt. Ich bin ehrlich begeistert.

Bei David McShane bin ich mir nicht sicher: ist es die Regie, die seinen Ariodates am Singen hindert, oder geht’s wirklich nicht? Ich will auf ersteres tippen. Das ist dann aber einer der ganze wenigen Schnitzer der Inszenierung.

Eine gleichfalls ganz und gar unklare Darbietung liefert Hagen Matzeit als Elviro. Zum Glück sind sie beide nicht eben tragend für das Ganze. Da regieren die Frauen.

Die Amerikanerin Stephanie Houtzeel ist aber der unangefochtene Star des Abends: es gelingt ihr, die Steigerung von der Humoreske bis in den rasenden Irrwitz glatt herüber zu bringen, dabei denkt man des öfteren, es müsse ihr selber irgendwann das Lachen auskommen… Nein, das Konzept trägt, sie schreitet darauf hin – und singt ganz wundervoll diese himmlische Musik. Und sie bekräftigt mich darin, dass ich auch weiterhin ungeschaut einen Händel jedem Verdi vorziehe.

Daher ist es bitte jetzt nicht als bloße Geste zu werten, wenn ich ihr im speziellen Danke sagen möchte.

Regeln für das geistige Wohlergehen des Opernfreunds #8
Dass etwas bejubelt wird, ist kein Grund, es für besser zu halten als es ist. Und umgekehrt.

Wie gut dieser Xerxes ist, wissen die brausend applaudierenden Zuseher wohl gar nicht. Sie bedanken sich für etwas Amüsement, wo sie barocke Langeweile befürchtet haben.

Ich aber sage Euch: der seltene Fall ist eingetreten, dass ich aus voller Kehle jubeln möchte. Ich bin ganz zu Recht nach Graz gefahren, um das zu sehen. Und ich würde auch nach Tschernowitz fahren, um das zu sehen. Von mir aus in die Volksoper gehen, wenn es sich nicht vermeiden lässt. (Aber Tschernowitz läge mir rein gefühlsmäßig näher.)

Dass heißt nun aber nicht, ich würde mir mehr solche Interpretationen wünschen. Dazu ist mir die Barockoper denn doch zu heilig – wenn mir irgendetwas in meinem Leben heilig ist – und die Gefahr, dass das mehrheitlich schief geht, denn doch zu groß.

Regeln für das geistige Wohlergehen des Opernfreunds #9
Nicht jede Regel trifft immer zu. Genau genommen zeichnen Regeln sich dadurch aus, im konkreten Einzelfall mehr oder weniger passend zu sein.

Quod erat demonstrandum.

Abseits des eigentlichen Ereignisses gilt es dann noch eine weitere Erkenntnis zu teilen:

Regeln für das geistige Wohlergehen des Opernfreunds (ohne Opuszahl)
Wenn wir in diesem Land nur ein bissl eine Organisation hätten… aber da hilft nur die sprichwörtliche Geduld der geschundenen Kreatur.

Karl Kraus hat das in seien Letzten Tagen der Menschheit brillant verewigt – leider ist auch hundert Jahr später noch kein rasender Fortschritt zu vermelden.

In den Vereinigten Staaten und auch bei den Briten allerorten gibt es die Methode, vorhersehbare Anstürme von Menschenmassen durch ein System von Schlaufen und Schlingen auf einige wenige oder nur einen Auslass zu lenken. Das hat seinen guten Grund aber wider Erwarten nicht darin, die Menschenmassen zu disziplinieren.

Die Wahrheit ist: es entbindet die andere, die servicierende Seite von der Notwendigkeit, über allzu viel know how zu gebieten. Sprich: wenn an der Garderobe nur immer einer nach dem anderen dran kommt, kann selbst das dümmste Fifi nicht die Übersicht verlieren. Und es geht – mit weniger Unmut – mindestens genauso schnell, wenn nicht schneller.

Wir werden das bissl Organisation, das andere uns voraus haben, wohl nie übernehmen. Gegen diese Eselei hilft nur – eine Eselsgeduld.

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