Der Vorwurf unnützen Theoretisierens ist den Denkern, und dabei nicht nur den Philosophen, die wir heute als die Überflüssigsten von allen ansehen, schon früh in ihrer Geschichte gemacht worden: schon dem Thales von Milet wurde praktische Untauglichkeit attestiert.
Ihm sagt Platon im Theaitetos nach (in der Übersetzung von Otto Apelt):
Als er, die himmlischen Erscheinungen zu beobachten, nach oben blickte und darob in einen Brunnen fiel, soll eine kluge und witzige thrakische Magd ihn verspottet haben, dass er voll Eifers der Kenntnis der himmlischen Dinge nachtrachte, von dem aber, was vor der Nase und vor den Füßen liege, keine Ahnung habe.
Für den Sokrates im platonischen Dialog ist dies der Ausweis eines weltfremden, den Menschen und ihrer Lebenswelt abgewandten Zweiges der Philosophie, die er zu enden gedenkt und überzuführen in ein zutiefst und zuinnerst menschenzentriertes Denken.
Seither ist in einer vielgliedrigen Kette wieder und wieder auf diese Anekdote rekurriert worden – in recht unterschiedlichen Facetten und mit recht verschiedenartigen Beweggründen, die bisweilen recht undeutlich, manches Mal aber mit den Händen zu greifen sind.
Hans Blumenberg hat in seinem Buch Das Lachen der Thrakerin eine Eine Urgeschichte der Theorie geliefert, die aber weit aus der Antike heraus reicht bis in die Gegenwart, jedenfalls zu Heidegger und Husserl.
Der Hans-guck-in-die-Luft dieser Anekdote ist – ob unter Nennung seines Namens oder ohne – zum personifizierten Irrtum des Denkens geworden – gemacht worden. Jedweder, der auf irgendwen hinzuschlagen gedachte, konnte dem simplen Plot der Geschichte seine je eigene Moral voran oder hintnach stellen, von der Geringschätzung fremder philosophischer Positionen der griechischen Denker untereinander bis hin zur Verdammung jeder Gestalt von Nachdenken über die Welt, wie es die frühen bis spätmittelalterlichen Kirchenvertreter hielten gegenüber denen, die etwas über die Welt in Erfahrung zu bringen trachteten, das nicht aus dem blinden Glauben an das Wort der Bibel und das der heiligen Mutter Kirchen stammte.
Meinte diese Verächtlichmachung zunächst etwa die Astrologen, die etwas über die Zukunft herauszulesen gedachten aus den Gestirnen, so wurde der Vorwurf, vor lauter Betrachtung des Unergründlichen die handfesten Tatsachen (des Glaubens) zu übersehen, bald auch auf jene übertragen, die Antworten jenseits der platten Absurditäten auf Fragen alltäglicher oder zumindest dem theoretischen Geist gewohnter Brisanz suchten: nicht nur Philosophen, die aus dem engen Disputationskreis der Scholastik ausbrechen wollten, sondern vor allem den neuen Astrologen, den (früh)wissenschaftlichen Gelehrten, die wir heute als Helden in der Historie der Astronomie führen, wurden solcherart als unpraktische Dummköpfe abgekanzelt – als Vorstufe der Abschreckung, deren rigideste Form, das Autodafé, etwa dem vorlauten Giordano Bruno das Leben kostete – und angeblich auch Galileo bedrohte.
Blumenberg hat eine knappe aber nichts desto weniger reichhaltige Rezeptions- und Ausbeutungsgeschichte dieser Anekdote geschrieben: in ihr ist weniger erstaunlich, dass der Mißbrauch des Themas sich so oft gegen das wendete, was wir aus heutiger Sicht den Fortschritt nennen würden, sondern vor allem, dass sie sich in schier jede Richtung anwenden ließ und läßt.
Eigentlich kann man über die Philosophen nur lachen oder sich am Lachen über sie erfreuen, wenn man sich selbst als deren Ausnahme betrachtet. Und in dieser Disziplin – ich schweige darüber, ob auch in anderen – betrachtet sich offenkundig jeder als die Ausnahme von allen anderen.
So Blumenberg. Und weiter:
Sie gehen nur zum Schein die Komplizenschaft mit der Magd ein und alchen nur einen Augenblick, ziemlich gequält übrigens, mit der thrakischen Magd, um sogleich danach in Komplizenschaft mit ihren Kollegen herzhaft über die dumme Magd zu lachen. Wer fällt hier eigentlich in die Grube?
Am Ende ist das Ganze auf die Meta-Ebene gehoben, die Rezeption der Anekdote wird zur Rezeption der Rezeption.
Vergessen wird dabei aber, dass die Theoretiker ja niemals wirklich zum allzeit rein Theoretischen verurteilt sind, bloss weil das im Rahmen einer kürzeren Zeit – sagen wir: eines Menschenalters jener, die den Theoretiker begleitend leben – so scheinen mag; auf lange Sicht haben die Theoretiker ihren stupenden Nutzen längst bewiesen:
Das Beobachten des Himmels hat – trotz manchen Falles in die Grube oder den Brunnen – zu ganz wesentlichen Ergebnissen geführt, und das weniger in der Astronomie, der sozusagen engeren Heimat dieser Theorie, sondern in der alltäglichen Welt, die uns heutige umgibt. Sieht man jenen uralten Thales als den Anbeginn der Philosophie, mithin Uranfang des fakten-interessierten, antimythischen Denkens, dann danken wir ihm á la longue unsere bürgerlichen Rechte und Freiheiten genauso wie den technischen Status Quo mit allem Schnickschnack.
Man könnte das folgendermassen zuspitzen: es mußte einfach einmal einer damit anfangen, in den Brunnen zu fallen, obwohl er dafür ausgelacht wurde, damit wir uns heute MP3s aus dem Netz saugen und der Musikindustrie die lange Nase drehen können. Von mir aus setze man für MP3 auch Schinken und Schmalz sowie für die Musikindustrie den Karfreitag ein.
Von der Tiefe des Brunnenbodens rufen wir den Mägden zu: Wir dürfen das alles! Wenn das kein praktischer Erfolg ist…