Von überschätzter Gegenwart und unterschätzter Vergangenheit

Vom Fueilleton bis in die soziologischen Studien wird konstatiert: die Welt wird immer schneller. Also nicht direkt die Erdkugel, die dreht sich keineswegs anders oder in anderer Geschwindigkeit als von jeher. Die Gesellschaft tickt schneller. Wir alle, so sagt man, unterliegen einer kulturimmanenten Beschleunigung.

Und natürlich wird gleich einmal angeführt, wie sehr die elektronische Mail unser berufliches und privates Leben beschleunigt. Darin liegt etwas ungeheuer Anziehendes: denn es ist jedem von uns schon einmal ganz und gar unheimlich vorgekommen, dass man am Telefon mit jemand sprechen kann und eine soeben noch mit verbalem Kommentar auf die (weite) Reise vom einen zum andern geschickte Email beinah im selben Moment schon bei uns aufpoppt… Dabei scheint es nicht viel auszumachen, ob die Email aus dem gleichen Bezirk kommt oder von den Britischen Inseln.

Da kann man schon so etwas wie einen Geschwindigkeitsrausch kriegen – und natürlich jede Menge Hochachtung. Die hier beobachtbare Beschleunigung des Postverkehrs muss immer wieder – gemeinsam mit der weltumspannenden Gleichzeitigkeit der Nachrichten – dafür herhalten, unseren gesteigerten Stress zu erklären.

Das Modell dahinter besticht: ein Brief, der fünf oder sechs Tage unterwegs war, kann auch ein paar Tage auf seine Beantwortung waren, so die Theorie; bei einem Email, das aber in Nullkommanichts herbeigerauscht kam, entsteht enormer Druck, es auch gleich zu bearbeiten und zu erledigen. Das ist einleuchtend – denn schließlich leiden wir doch alle genau darunter.

Aber hierbei sind einige Dinge, wenn schon nicht direkt falsch, so doch perspektivisch verschoben.

Zum ersten war auch die hier so ins Putzige gerückte Vergangenheit nicht vollkommen minderbemittelt: in vielen großen Städten gab es zwischen der Mitte des 19. und der des 20. Jahrhunderts ausgedehnte Systeme der Rohrpost mit Netzen von mehreren hunderten oder tausenden Kilometern Länge, da flitzten die Rohrpostbriefe durch – mit 1000 Metern pro Sekunde, das sind immerhin 60 km/h, eine Geschwindigkeit, die heutzutage von Postfahrzeugen im innerstädtischen Bereich nicht mehr erreicht werden kann. Und vor allem: dazumal gab es bis zu 5 Zustellungen pro Tag! Man konnte also durchaus an einem Tag mit drei oder vier Briefen Ping-Pong-Spielen…

Dass dies etwa von Turteltauben durchaus vergleichbar gehandhabt wurde wie heutzutage die SMS, läßt sich zum Beispiel im Briefwechsel zwischen Adele Sandrock und Arthur Schnitzler nachlesen: Adele Sandrock und Arthur Schnitzler. Geschichte einer Liebe in Briefen, Bildern und Dokumenten.

Andererseits ist auch die sagenhaft schnelle Übertragung der elektronischen Mail an gewissen physikalische Gegebenheiten gebunden – wie ich just im urlaub auf Kreta im doch recht einschichtig gelgenen Lentas lernen konnte: der Internetzugang über Satellit verursacht eine recht lange Wegstrecke der Signale. Vom PC geht es zunächst auf den Satelliten, von dort wieder herab zur Vermittlungsstation, wo die angeforderte Internetseite genauso wie bei jedem anderen verkabelten Teilnehmer angefordert und abgeholt wird, um sodann wieder auf die doppelte Reise zum Satelliten hinauf und wieder herab zum Empfänger geschickt wird. Das macht dann bald einmal jene grob 300.000 Kilometer aus, die das Licht in einer Sekunde zurücklegt.

Man sitzt also vor dem Browser und verspürt das deutliche Delay von einer Sekunde zwischen Klick und Antwort… Unser Umgang mit dem Sofort-Medium Internet deutet dies als ungewöhnliche, ja lästige Verzögerung, obwohl so eine Sekunde Reaktanz ja wirklich keinen Rückfall in die Steinzeit darstellt. Immerhin, daran läßt sich ablesen, dass wir eine gewisse Geschwindigkeit gewohnt sind, wenn es ums Internet geht – so wie wir es voraussetzen, dass ein Film 34 Bilder pro Sekunde hat oder unser Fernsehbild eine zeitgemäße Auflösung. Andererseits darf die Tageszeitung über Nacht produziert und ausgeliefert werden und muss sich nicht selber überholen, um interessant zu bleiben. Der haptische Aspekt ist mindestens genauso Teil im Medienerleben der Zeitung wie der redaktionelle Inhalt, den sie transportiert – und den man gleichwertig und schneller via Web erhalten könnte.
Hartmut Rosa - Beschleunigung
Die Studie Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne von Hartmut Rosa führt umfassend und ausführlich in die Theorie der Beschleunigung ein. In dem reichen Material, das er zusammengetragen hat, findet sich vieles, was auch in der Realität aufzufinden ist. Manche Ansätze jedoch scheinen in erster Linie dem Willen gedankt, das Phänomen der Beschleunigung als zentralen Wesenszug der Moderne zu beweisen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert