Wo Reheis nicht Recht hat

Manche können es nicht lassen: das systematische Scheitern absolut aller jemals im Namen und unter Berufung auf Marx angestellten Versuche zum Trotz, aus diesen Theorien eine Gesellschafts- und vor allem Wirtschaftsordnung zu formen, kramt immer wieder wer den alten Theoretiker hervor, um darin was zu suchen, das auf unsere Zeit passt.

Unter dem ansprucherhebenden Titel Wo Marx Recht hat bespricht Fritz Reheis, Professor an der Bamberger Uni, der sich auf der eigenen Homepage als Philosoph ‚unserer Zeit‘ mit dem Hauptanliegen Entschleunigung präsentiert, eine Reihe von Punkten, in denen Marx seiner Meinung nach Recht gehabt habe.

Nun muss man immer konzedieren: jeder Text lässt sich daraufhin bürsten, dass etwas Brauchbares in ihm steckt. Denn wie man beliebige Aussagen über Jahrhunderte hinweg – und seit Marxens Todesjahr 1883 sind auch schon 128 Jahre ins Land gegangen – in eine gegenwärtige Passform hievt, beweisen die verschiedenen Religionsgemeinschaften Tag für Tag. Das bedeutet aber weder, dass Jesus zu unserem heutigen Leben etwas gesagt hätte, noch, dass Marx‘ Theorien in eine Zeit wie unsere passen würden.

Für mich ist jedoch das eingangs gebrachte Argument nach wie vor der eigentliche Totschläger: es hat noch nicht ein einziges Mal funktioniert oder irgendetwas Sinnvolles hervorgebracht – Diktaturen im verbalen Kleide von Volksdemokratien, wirtschaftliche Rückständigkeit, unzufriedene Bürger, ja: und mehr Tote als irgendeine andere Idee jemals auf ihr Gewissen geladen hätte sammeln sich in den Biografien von Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot und zahllosen anderen bis zu den Brüdern Castro… Das schafft, Stalin und Mao sei Dank, nicht einmal die katholische Kirche – mit dem weiteren Rekord, dass wohl auch noch nie in der Geschichte größere Hungersnöte produziert wurden als aufgrund von Marxens Theorien in der Sowjetunion und im kommunistischen China.

Reheis nimmt sich natürlich auch dieses Arguments an, seine Erwiderung ist allerdings hanebüchen: Marx‘ Konzeptionen seien noch niemals verwirklicht worden, das war doch alles quasi nicht original, nicht im Sinne von Marx. Das nun aber ist eine Rechtfertigung, die entweder zutrifft aber inhaltsleer ist, oder eben nicht zutrifft, weil sie selbstwidersprüchlich ist.

Und ehrlich: ich möchte nicht in einer Welt leben, wo man solches sinnvollerweise behaupten kann. Denn dann wäre etwa auch am Antisemitismus nichts auszusetzen, weil ja der Hitler sich in extremis vom ursprünglichen Gedankengut entfernt hat. Und noch dutzende andere solche Fälle drängen sich da auf. Wenn es so wäre, warum hat dann nicht ein einziger Versuch, weder bei Marx noch beim Antisemitismus, jemals zu einem auch nur irgendwie positiven Ende gefunden? Und warum gibt es keine christliche Glaubensgemeinschaft, die den eigentlichen Sinn der Worte Jesu lebt?

Wer umgekehrt bei Marxens ökonomischer Theorie beginnt, negiert nicht bloß en passent eineinhalb Jahrhunderte Wirtschaftswissenschaften sondern eine Gesellschaftsentwicklung, in deren Verlauf der von Marx ins Visier genommene ausgebeutete Arbeiter sich zu einem gesättigten Wohlstandsbürger weiterentwickelt hat mit eigenem Haus, mindestens einem Kraftfahrzeug und mehreren Mobiltelefonen. Man muss da schon enorme Verbiegungskünste an den Tag legen, um das noch irgendwie in Einklang zu bringen.

Schon die Fundamentaltheoreme im Kapital sind perspektivische Verkürzungen aus der Sicht eines, der für die vorhergesagte Revolution einen theoretischen Unterbau benötigte: denn es ist biografisch nicht zu leugnen, dass Marx zuerst mit Leib und Seele Revolutionär und Krawallmacher war und sich erst danach – weil nämlich alle mehr oder minder weit voran geschrittenen Versuche, Revolution zu machen, wenig erfolgreich endeten – in Eigenregie zum Ökonomen fortbildete.

Das Blättern im Briefwechsel zwischen Marx und Engels ist da enorm aufschlussreich: noch bevor Marx mit seinen Studien begann, hatte er schon präzise Vorstellungen, was dabei herauskommen sollte: die Revolution, eh klar. Man kann aber seinen (unvollständigen) Bemühungen keineswegs absprechen, dass sie nicht langdauernde Faszination und fatale Wirkung erlangt hätten: mit den oben beschriebenen Folgen. Aber das gehört in die Geschichte der Religionen eher als in Wissenschaft oder Politik.

In Marx‘ verkürzter Perspektive existiert nur Muskelkraft – alles andere ist ihm suspekt, der selber nie einen Tag gearbeitet hat, schon gar nicht manuell. Diese Muskelkraft gilt es gegen alle Leistungen des Geistes in Schutz zu nehmen, ihr allein gebührt jegliche Wertschöpfung. Unterschiede macht Marx nicht, der Ingenieur ist nicht mehr wert als der Handlanger. Allerdings steht Herr Marx selbst natürlich über diesen Dingen, er denkt für die anderen, er gründet Parteien und schmiedet Revolutionspläne. Er hat sich ein egozentristisches Universum gebaut.

Man kann die Geschichte der Arbeiterbewegungen lesen wie man will, ihre marxistische Strömung hat nur dort Anteil an den positiven Entwicklungen der letzten 150 Jahre, wo sie sich vom marxistischen zum sozialdemokratischen Paradigma weiter entwickelt hat. Das mag man den Leuten je nach Position als Verrat oder Pragmatismus auslegen, es hat aber jedenfalls zu greifbaren Ergebnissen geführt, mal mehr mal weniger stark überreguliert. Wohingegen keine einzige kommunistische Variante jemals etwas von bleibendem Wert hervorgebracht hätte.

Das System variabler Preise und eines Marktes zur Bestimmung derselben hat Marx nie begriffen oder bewusst außen vor gelassen. Eine Reihe von Ökonomen hat das festgestellt, beginnend schon 1896 beim Österreicher Eugen von Böhm-Bawerk, der insbesondere in der Frage nach der Festsetzung des Arbeitslohns {{1}} Stellung gegen Marxens unausgereiftes Theoriengebäude bezog.

Aus dem gleichen Willen, das selber zu regeln und nicht sich entwickeln zu lassen, sind riesige bürokratische Apparate entstanden, deren Ineffizienz nur noch durch ihre Verlogenheit übertroffen wurde: zentrale Planung produziert stets mehr gefälschte Statistiken als tatsächliche Waren. Ludwig von Mises fand schon 1922 wenig Positives am Sozialismus und sagte voraus, dass Planwirtschaft auf Dauer nicht funktionieren könne. Und heute sind wir an dem Punkt angelangt, wo sich das wohl eindeutig bewiesen hat.

Interessant an Reheis‘ Buch ist, wie stark die Argumentation seiner einzelnen Punkte den Charakter von Rückzugsgefechten annimmt: fast immer nimmt er reißaus durch die Hintertür, dass ja Marx das alles anders gemeint habe. Nun, auf dieser Basis lässt sich vermutlich jeder beliebige Text in jede beliebige Bedeutung wenden.

Was aber hat Marx uns heute zu sagen? Wenn man nicht die Rede von der Krise des Kapitalismus führt, dann eigentlich gar nichts. Marx interessiert sich nicht für die Umwelt und auch nicht für die Entwicklung unterprivilegierter Weltgegenden; über kolonialisierte Länder handelte Marx durchaus noch in den Gegensätzen von Wildheit und Zivilisation. Marx interessiert einzig sein soziologisches Modell und die Durchsetzung der Klassenherrschaft der Arbeiter als erster Schritt auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft. Er hat Zeit seines Lebens auf die finale Krise des Kapitalismus gewartet wie die Juden auf den Messias und die Christen auf den jüngsten Tag.

Inzwischen hat der westliche Kapitalismus – zumindest bei sich zuhause – die Klassen weitestgehend abgeschafft. Über unsere Pensionsfonds sind wir alle Kapitalisten geworden und trachten nach Profiten, die uns ironischerweise selber als abstrakte Gier gegenüber stehen und unsere Arbeitsplätze wegrationalisieren wollen. Insbesondere die Arbeiter nehmen aus den Sozial- und Pensionssystemen mehr heraus als sie einzahlen. Die größten Probleme, die unsere Gesellschaft am Beginn des 21. jahrhunderts hat, bestehen nicht ganz bar der Ironie in vergemeinschafteten Unternehmen, die reine Zuschussbetriebe geworden sind. Interessanterweise sind auch just jene Banken, die jüngst mit Milliardenaufwand vor dem Kollaps gerettet werden mussten, solche im staatlichen Einflussbereich: in Österreich sind das Kommunalkredit und Hypo Alpe Adria, in Deutschland eine Reihe von Landesbanken.

Wenn der Finanzsektor momentan von einer Krise in die nächste stolpert, so liegt das weniger an der Gier der Akteure – die ist auch ein eigenes, vielleicht ein moralisches, aber kein für das System bedrohliches Phänomen – sondern an der Sorglosigkeit der Regierenden, die im Namen der Gemeinschaft laufend die Geldmenge vermehren und gigantische Schuldenberge anhäufen statt sich struktureller Probleme anzunehmen, und der laxen Handhabung und Lockerung der Kontrollmechanismen.

Wirtschaften auf Pump ist keine kapitalistische Kerntugend. Finanzierung ist auf Profit gerichtet: die Schuldenkrise der amerikanischen Hausbesitzer, der Banken und der Staaten jedoch rühren aus Verletzungen dieses Grundprinzips. Hier wurden und werden Dinge finanziert, die sich niemals rechnen können. Das kann eine Zeit lang unbeschadet durchgezogen werden, da kann querfinanziert werden, aber alles nur bis zu einem bestimmten Ausmaß. Und: für korrupte Eliten sind die Wähler verantwortlich, in Griechenland genauso wie in Afrika.

Was hat das alles mit Marx zu tun? Eben. Ein generelles Unbehagen an Auswüchsen unseres Wirtschaftssystems mag durchaus angebracht sein, aber nichts kann einen Schritt um eineinhalb Jahrhunderte zurück rechtfertigen. Statt den Kopf in alte Schinken zu stecken wäre es angebracht, das logische Denken zu üben. Präzises Denken lehrt einen rasch, dass es keine einfachen Erklärungen für diese Welt gibt. Also auch keine einfachen Lösungen für die Probleme dieser Welt.

Das Individuum kann der Welt nicht helfen. Dem Individuum aber kann die Philosophie helfen: die römische Stoa, insbesondere Seneca oder Marc Aurel, wären da ein guter Anfang für alle, die zur geschäftigen Unruhe in Sachen Weltverbesserung neigen.

[[1]]siehe: Böhm-Bawerk, Macht oder ökonomisches Gesetz? Wien 1914[[1]]

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