Vom rigorosen Dualismus

Verfolgt man die Tendenzen der modernen Wissenschaften, der Physik, sowohl ins Kleinste hinab als auch in die Tiefen und die historischen Dimensionen des Universums, der Biologie, der Evolutionsbiologie, der Neurowissenschaften und zahlloser anderer Disziplinen, so gewinnt man den Eindruck, dass an ihrem Ende keine klaren, simplen Erklärungen, keine umfassenden Prinzipien, keine Ideen oder Formeln stehen werden – sondern ins Unendliche weiter sich spaltende und immer komplexer werdende Vorgänge, wie wir das exemplarisch bei der Erforschung der Quantenwelt zu sehen bekommen, wo selbst vermeintlich grundlegenden Gesetze und sogar die Identität aufgehoben werden.

In der Neurobiologie kommt man mehr und mehr dahin, Wahrnehmung, Gefühle und sogar das Denken in einer unendlich komplizierten Gemengelage elektrischer und chemischer Vorgänge verankert zu sehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Maschine Gehirn sich als etwas herausstellt, das einen nachvollziehbaren Bauplan hat, wird von der schier ins Unendliche gehenden Verästelung von kleinen Nervenzellen, die aber ihrerseits wiederum einen Aufbau haben, der wohl auch noch nicht das Ende der Dekomposition sein wird, langsam aber sicher vollkommen negiert.

Auch die Entstehung des Lebens scheint einem ähnlichen Prinzip gefolgt zu sein, nämlich einer hochkomplexen, vor allem aber unüberschaubaren Menge an Versuchen, die in kaum noch darstellbar winzigen Anteilen sinnvolle Varianten produziert haben mag, welche dann den Kristallisationspunkt für weitere Entwicklungen gebildet haben dürften.

Man kann sich nun zurück lehnen und diesen Wissenschaften vorwerfen, sie suchten und fänden daher ausschließlich das Wie unserer Welt, jedoch niemals das Warum. Das ist zutiefst philosophisch gedacht.

Mittlerweile scheint es aber an der Zeit zu sein, den Fehler nicht länger in den Wissenschaften und der Welt zu suchen, sondern in der Philosophie.

Ein vorherrschendes Prinzip, wenn man solche Dinge schon partout haben will und muss, scheint es zu sein, dass existiert, was funktioniert; man könnte es das Prinzip der zureichenden Erfolgs nennen.

In der Wahrnehmung – so hat die Untersuchung der Wahrnehmungsapparate und Gehirne vieler Spezies bis hin zum Menschen ergeben – kommt es nicht darauf an, etwas vollständig und ganz zu erfassen, die Totalität, die man in der Philosophie wohl mit dem Begriff Wesen meint, sondern es möglichst rasch auf einigen wenigen simplen Achsen wie bekannt-unbekannt oder wichtig-unwichtig zu kategorisieren; den Rest kann dann ein entsprechend trainiertes Gehirn – und ein solches ergibt sich von selber im Laufe des Lernens – aus seinen Speichern hinzufügen. Die Wahrnehmung scheint immer auf das reduziert zu sein, was uns gerade angeht. Dabei ist es wichtig, über einen Apparat zu verfügen, der eben alles andere herausschneidet. Auch Tiere verfügen über diese Fähigkeit, da sie in ihrer Lebensumgebung rasch grundsätzlich entscheiden müssen, ob es sich bei dem, was in ihren Wahrnehmungskreis tritt, um Beute oder Feind handelt. Zumindest die meisten Tiere, denn etwa Blauwale scheinen wenig Aufwand mit der Nahrungssuche zu haben und auch – bis vor entwicklungsgeschichtlich relativ kurzer Zeit jedenfalls – keine Feinde zu haben (so wird das jedenfalls gerne eingewandt, doch ihre Jungen sind sehr wohl potentielle Beute anderer Walarten, und wahrscheinlich braucht es auch eine Art von Sensorium, zwischen Gegenden mit höherer und niedriger Dichte an Krill zu unterscheiden).

Die Evolution wiederum scheint immer schon in verschwenderischer Manier wahre Unmengen von Existenzen auf den Weg gebracht zu haben, einfach um zu sehen, ob sie sich halten können. Das muss man natürlich als einen selbstorganisierten Versuch verstehen, also ganz und gar ohne Plan, mit dem Ergebnis, dass zumindest für eine Weile etwas existieren und bestehen kann, bis es entweder nicht mehr taugt und verschwindet oder sich weiter entwickelt und weiter besteht. Das ganze Geheimnis dahinter, das leicht einen kompletten Schöpfergott ersetzen kann, ist die schiere Menge – und die Dauer dieses Experiments, das ja immerhin schon einige Milliarden von Jahren andauert.

Es wäre eine nicht zu beweisende Hypothese, anzunehmen, dass, wenn wir zurückschauend eine lange Straße auf uns zukommen sehen, auf der das Universum und das Leben und schließlich wir selbst uns entwickelt haben, dahinter ein Plan stehe, der geradewegs vom Nichts bis zu mir herauf extra angelegt wurde, um eben mich hervorzubringen.

Das schmeichelt mir natürlich.

Die Gegenhypothese, dass ich ein rein zufälliges Produkt einer wahren Unmenge hintereinander und nebeneinander ablaufender Prozesse bin, einer Steigerung von Aggregationsformen, die in etlichen Entwicklungsästen sich als wenig beständig hat, von deren einstweilen noch beständigen ich einen zu repräsentiere die Ehre habe – ist nachgerade einfacher.

Es schmeichelt mir bloß nicht.

In der Geschichte der Philosophie ist schon sehr viel gedacht worden – die Vielfalt der Ideen und Ansätze ist atemberaubend, wenn man das in einem bescheidenen Leben mit einem bescheidenen Hirn bewältigen muss. Vergleichen mit den kognitiven Leistungen eines einzelnen Menschen in einer einzigen Stunde – sagen wir: des Spazierengehens auf einer mäßig beklebten Einkaufsstraße – ist das aber immer noch recht dürftig.

Es scheint die Sucht nach dem Einfachen, Reduzierten zu sein, wo der Hund begraben liegt.

Aber warum möchte die Philosophie einfache Erklärungen bieten, zugrundeliegende Prinzipien, erste Ursachen?

Das dürfte aus ihrem Antagonismus zum Religiösen stammen. Religion hat immer einfache Erklärungen geboten, einen Geist in den Bäumen, einen Gott fürs Blitzen, einen Menschensohn, der für die Erlösung geradesteht. Na ja, manches ist vielleicht auch nicht gar so einfach… Aber es ist wohl dasselbe Prinzip: anstatt die Frage zu beantworten, warum gerade ich ein armer Schlucker bin, verspricht sie mir ewige Seligkeit.

Im Gegensatz zur Philosophie, dem energischen Fragen, hat das Religiöse, das man dem gegenüber das arglose Fragen nennen könnte, sich eine Instanz des Heiligen geschaffen, die dafür sorgt, dass irgendwann auch wieder Schluss mit der Fragerei ist: Gott und basta.

Die Philosophie ist demnach ehrliches Fragen, weil sie die Berechtigung beinhaltet, solange weiter zu fragen, bis man zufrieden ist oder die Lust verliert. Allerdings scheint sie von Anbeginn an auf der Suche nach dem zu sein, was der Instanz des Heiligen in der Religion entspricht, der letzten Antwort, oder, wenn man das partout anders herum formulieren möchte, der ersten Ursache. Damit hätte auch die Philosophie endlich ihren Gott und ihr Basta!

Doch die Freiheit, zu fragen, impliziert, dass alles und jedes be- und hinterfragt werden kann. Kinder besitzen noch diese ursprüngliche Herangehensweise; oder sie verlieren einfach nicht so schnell die Lust am Fragen, kann auch sein.

Wissenschafter sind in dieser Hinsicht wie Kinder: sie hören auch niemals auf, weiter zu fragen und zu forschen. Nicht umsonst ist die Wissenschaft als Forschung – nicht schon als in Disziplinen aufgespaltenes System – zeitgleich mit der Philosophie entstanden. In ihnen herrscht das gleiche Fragen vor. Und Teildisziplinen der Philosophie sind durchaus auch sinnvoll, denn es lohnt sich, Fragen nach den Bedingungen von Erkenntnis, Moral oder Schönheit zu stellen!

Und es findet sich in ihnen natürlich auch eine gewisse Hierarchie, denn Fragen der Moral sind nicht zu beantworten, ohne die Frage nach Wirklichkeit und Wahrheit gestellt zu haben, zumindest nicht, wenn sie den Ansprüchen der Philosophie genügen sollen.

Genausowenig sind die Fragen als solche das Problem, das die Philosophie mit sich hat. Alles darf gefragt werden. Jede Frage darf auf Antworten hoffen. Und damit sind wir beim Kern, bei der Metaphysik: die Frage nach dem Sein als Seiendem darf natürlich gestellt werden. Gleichzeitig beginnt hier auch das Unheil der Metaphysik, und zwar mit ihrem rigorosen Dualismus der zulässigen Antworten, wie überhaupt Oppositionen ein grundlegendes Merkmal des griechischen Denkens zu sein scheinen, eine Art Hauptsport der Philosophen.

Existiert die Welt außerhalb unserer Wahrnehmung?

Vermutlich – das wäre die pragmatische Antwort darauf. Und diese womöglich vorläufige Annahme reicht in der Tat auch aus, um die weiteren Fragen zu diskutieren, denn sie ist zweckdienlich, sie erlaubt einen gewissen Erfolg in allem, was danach kommt.

Aus heutiger Sicht können wir aus vielen Einzelwissenschaften ein Bild darüber gewinnen, wie dieses Prinzip des zureichenden Erfolgs sich auswirkt: es lässt das Leben erblühen, Vielfalt entstehen, und uns die Muße, solchen Gedanken nachzuhängen, anstatt dass wir permanent damit beschäftigt wären, kleinste Details und ihre Veränderungen in unserer näheren Umwelt wahrzunehmen.

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