Ganz perfekt kriegt man’s wohl nie in der Oper, egal in welcher, doch es gibt Abende, die reichen sehr sehr nah heran an Perfektion. Man spürt das an dem Glücksgefühl, das sie bis in den Alltag der nächsten Tage hinein hinterlassen.
Das liegt zunächst einmal an der Musik von Christoph Willibald Gluck: seine Iphigenie en Tauride gehört ohne Frage zum Schönsten, was je in einer Partitur notiert wurde.
Wird es dann auch noch brilliant gesungen, vermögen dem Ereignis auch Unzulänglichkeiten der Regie nichts mehr anzuhaben. Dabei ist die Übertragung aus der Live in HD-Serie der MET im Grunde rundum gelungen.
Trotz erkältungsbedingter Ansage singt Susan Graham die Hauptrolle kräftig, ausdrucksstark und lyrisch, als hätt‘ sie keinerlei Probleme mit der Luft… Sie verkörpert eine Iphigenie, deren Verzweiflung so intensiv wie ihre Resignation lyrisch ist. Sie meistert diese seltene Hauptrolle für Mezzo in beeindruckender Intensität.
Bei Bühnenpartner Plácido Domingo ist die Zurückhaltung phasenweise jedoch deutlich zu spüren, wenn auch nicht zu hören – der Siebzigjährige hat offenbar mehr als genügend Praxis, um sich seinen Oreste einzuteilen. In manchen Nahaufnahmen sieht man aber, wie hart dies Ergebnis erkämpft ist.
Der dritte im Bunde, Pylade Paul Groves, singt klar, kraftvoll, frei von Keimen und vermag damit die heroische Seite der Rolle auszuspielen.
Das Trio ist allerdings über dies Engagement an der MET hinaus erfahren in seiner langjährigen Zusammenarbeit an der Iphigenie – bisweilen ohne Domingo.
Vergleiche ich diese Iphigenie mit jener des Theaters an der Wien zum Ende der letzten Saison, so sticht in erster Linie Veronique Gens heraus, die ihren Part fast noch besser singt als Susan Graham in New York. Dafür hatten die Wiener Symphoniker deutlich mit der an sich geradlinigen und schnörkellosen Musik Glucks zu kämpfen – was man vom Orchester der MET in keiner Weise behaupten darf.
Dirigent Patrick Summers leitet souverän, indem er Gluck die klaren Linien erhält und sich jeglicher orchestraler Gefühlsaufwallung enthält.
Die Inszenierung von Stephen Wadsworth kümmert sich um den Ausdruck individueller Psychologie, in welcher die Personen aus ihrem Leid und ihrer Verstrickung heraus als Menschen kenntlich gemacht sind, die mit Schuld und Opfer ringen. Dem gegenüber bleibt das Bühnengeschehen statisch, wenig aufgelockert von ein paar Tänzern.
Um zum Vergleich mit der Wiener Aufführung in der Regie von Thorsten Fischer zurück zu kehren: die Einbettung der aktuellen Handlung in den mythologischen Kosmos von Trojanischem Krieg und Orestie gelang dem Deutschen eindeutig besser, wie auch die Belebung der Szene. Umgekehrt versteht Wadsworth es besser, das Drastische dieses fortwährenden Mordens zu verdeutlichen.
Das New Yorker Bühnenbild von Thomas Lynch – durch alle Akte gleich bleibend – schafft immerhin so etwas wie aus das Wesentliche reduzierte Kammerspielatmosphäre, die beständige Präsenz von Tempel und Opferaltar hält die Bedrohlichkeit der Situation in unaufgeregter Weise aufrecht.
Zum überwiegenden Teil ist jedoch die enorme Intensität der MET-Aufführung auf die Übertragungsregie zurück zu führen, die uns durch beständige Nahaufnahmen engste Teilnahme ermöglicht. Je mehr gelungene Live in HD-Produktionen ich erlebe – man muss schon ein stärkeres Wort als nur sehen benutzen -, desto mehr kann ich dieser Darreichungsform von Oper abgewinnen. Aber das soll hier nicht der Ort sein, das zu diskutieren…
Ein Gedanke zu “Intensives Kammerspiel von Mord und Opfer”