Der Erfolg, den Christoph Willibald Gluck 1779 in Paris mit seiner Oper Iphigénie en Tauride feierte, ist auch heute noch beinah ab dem ersten Ton verständlich. Der Umbruch aus der – nach Händel in betontem Virtusoentum erstarrten – Barockoper könnte nicht größer sein, und auch nicht besser: Glucks sogenannte Opernreform – eine Rundum-Erneuerung der Gattung – war mehr als nötig, und der Pfälzer mit enger Bindung an den Wiener Hof hat sich bleibend in die Musikgeschichte eingeschrieben. Seine zweite Iphigénie – nach jener in Aulis – darf als seine beste Oper gelten, wenngleich der Orpheus häufiger auf den Spielplänen steht.
Der deutsche Theaterregisseur Thorsten Fischer setzt von Anbeginn konsequent auf Blicke in die Tiefen der Psychologie seiner handelnden Personen – und wir haben es mit Iphigenie und ihrem Bruder Orest mit Mitgliedern der am blutigsten verstrickten Familie der griechischen Antike zu tun: die Atriden – abstammend von Atreus und dessen aus Inzest mit der eigenen Tochter stammendem Sohn Aigistos – werden tiefer und tiefer verwickelt in einen Strudel von Bluttaten, in dem auch und gerade die Mitglieder der eigenen Familie keine Schonung finden. Der Regie gelingt es, diese Vorgeschichte vom Mord an Agememnon und Kassandra bei ihrer Ankunft aus Troja, der besinnungslosen Rache seines Sohnes Orest an der Mutter und Mörderin Klythemnestra und ihrem Liebhaber schon während der Ouvertüre in einem wie tänzerischen Reigen Revue passieren zu lassen – wir sind von Anfang an in alles eingeweiht.
Hier präsentiert sich vom ersten Ton an eine verzweifelte, an dieser ewigen und ewig fortdauern wollenden Blutoper sich abmühenden Iphigenie, Priesterin der Artemis in Tauris, dessen Herrscher Thoas aus Angst um sein Leben Opfer um Opfer fordert. Iphigenie wurde von ihrem Vater Agamemnon auf der Fahrt nach Troja der Göttin Artemis geopfert – doch von dieser in letzter Sekunden nach Tauris entrückt. Als nun ihr Bruder Orestes mit seinem Gefährten Pylades auftaucht, sollen die beiden Griechen geopfert werden – und Iphigenie erkennt in Orest nicht den Verwandten.
Die Bühne von Vasilis Triantafillopoulos ähnelt einem offenen Flak-Turm, dem Skelett eines Bunkers mit Durchsichten und Durchbrüchen, zwischen denen fliessende Übergänge möglich sind, und auch praktiziert werden – wodurch der wunderbare Fluss der Gluck’schen Musik auch szenisch genutzt werden kann.
Glucks Oper ist ein Lehrstück an Prägnanz, eine kurze, umso intensivere Liaison von Ausdruck und Schönheit. Veronique Gens verleiht der Iphigenie ausdauernd und an der Grenze zum Belcanto Stimme. Sie trägt durch und überhaupt die ganze Oper. Ihr zur Seite stellen der Stuttgarter Rainer Trost und der Franzose Stéphane Degout das Heldenpaar Pylades und Orestes auf die Bühne.
Glucks musikalisches Konzept sieht bei dieser Männerfreundschaft längst keine barocke Säuselei mehr vor – sie sind enge Freunde, in Liebe einander zugetan, doch bleiben sie trotzdem Männer.
Der amerikanische Bariton Andrew Schroeder belebt einen mafiotischen, sonnenbebrillten Despoten, der jedoch von Furcht getrieben wird – dabei recht schön singt.
Neben diesen vieren wirkt in erster Linie der Arnold Schönberg Chor: die Priesterinnen auf der einen, die Männer von Tauris auf der anderen Seite stehen einander gegenüber, auch hier – wie unlängst bei Moses und Aron – ist der Chor mehr als nur Zugabe im Hintergrund: Priesterinnen und Volk agieren sangesstark als tragende Figuren des Dramas.
In stummen Rollen geistern die ermordeten Agamemnon und Klythemnestra immer wieder durch die Alpträume der Protagonisten, zu guter Letzt auch Artemis mit weißer Taube, als sollte endlich alles ins Lot kommen und wieder Friede einkehren…
Dirigent Harry Bicket – auch letzte Saison hier am Haus mit Mozarts Mitridate – hielt sein Tempo und die Geschichte im Fluss, einzig gelang ihm – vor allem im ersten Akt – nicht ganz, die Wiener Symphoniker auf Präzision zu stimmen. Das gab sich wohl späterhin, wenn das Orchester durchaus hohe Wogen zustande bringt, verweist aber doch darauf, dass am Übergang vom Barock in die Vor-Klassik vermutlich noch andere Qualitäten zählen als schon beim späten Mozart. Das war ja auch schon ein Kritikpunkt beim Mitridate… Bisweilen mangelt’s auch an der Synchronizität von Gesangs- und Instrumentalstimmen. Bis auf das Orchester war#s jedoch perfekt!
Für mich ist damit die Saison im Theater an der Wien ausgeklungen, denn den Weber’schen Freischütz werd‘ ich wohl – wie man so sagt – spritzen… allein beim Gedanken an den Jungfernkranz wird mir unwohl.
Ein Gedanke zu “Bis aufs Orchester perfekt”