Das archaische Grauen, das uns wie aus einer anderen Welt entgegenblickt, wenn wir antike Stoffe wie die Medea auf uns wirken lassen, ist in aller Regel nicht verstehbar.
Luigi Cherubini hebt den Stoff aus seiner fernen Herkunft herauf ins Bürgerliche: das dankt sich der Situation im revolutionären Frankreich von 1797, da das antikisierende Moment einem modernen, zeitbezogenen und damit auf die Menschen der Zeit bezogenen zu weichen hat. Nicht mehr Adel, Fürsten und Herrscher sind die Empfänger der Gattung Oper, es sind nunmehr die Bürger, und zwar jene in der Hochblüte der Revolution, die ins Theater kommen.
Ihnen setzt Cherubini eine lebensnähere Interpretationdes Mythos vor, eine bürgerliche Ehe-Geschichte. Der Held Jason ist Bürger geworden, ein untreuer Ehemann, der seine erste Frau Medea verstößt und an ihrer statt die Tochter des Königs Kreon zu heiraten plant. So banal kann mythische Tiefe in einem Heute ankommen. Mit diesen Bühnengestalten aber kann der Bürger etwas anfangen.
Folgerichtig geht es ums Verlassenwerden, um die Wut einer verlassenen Frau, um Rache, die bis hin zur Tötung der eigenen Kinder geht – ganz als ob das irgendwo da draussen auch geschehen könnte. Was bei diesem reeduzierten Plot auch da oder dort fast jedes Jahr Wirklichkeit wird.
Musikalisch aber ist Cherubinis Medée ein Meilenstein: die am expressiven Ausdruck der Gefühle orientierte Formensprache weist bereits weit über ihr klassisches Entstehungsumfeld hinaus in die Romantik. Im Theater an der Wien wurde unter Fabio Luisi die originale französischsprachige Version aufgeführt, die nicht bloß in Details vollkommen anders klingt als die italienische, die vor allem durch Maria Callas bekannt wurde. Von ihr gesungen klingt die Medea fast wie italienischer Verismo, kräftig, volltönend.
Die Wiener Medea gesungen von der Georgierin Iano Tamar klingt dagegen weniger lyrisch, weniger vokalisch, dafür eben expressiver, ja auch aggressiver, wenn sie ihre Rache am ungetreuen Jason ins Werk setzt. Die Partie muss wahrlich anstrengend sein, allein ihre Dauer und der ab der Mitte des zweiten Aktes fast pausenlose Einsatz der Medea verlangen ihren Interpretinnen gewisse enorme Leistungsfähigkeit ab.
In der Inszenierung von Torsten Fischer kommt das Werk aber eher dümmlich daher: die durchgehende Uniformierung des Personals – nur die handelnden Frauen, Medea und Dircé, die Tochter Kreons und Auserwählte Jasons (in der deutlich kleineren Rolle neben Medea aber richtig gut: Henriette Bonmde-Hansen), bleiben zivil, quasi Aufputz einer kriegspielenden Männermeute – schafft eine deutungsschwangere Atmosphäre, in der es aber niemals zur Deutung kommt.
Bisweilen meint man, gerade wenn Medea im Vollschleier, der recht eng dem viel diskutierten Tschador nachempfungen ist, durchs Volk geht und die Leute vor ihr zurückweichen, eine Geschichte über die Ausgrenzung traditioneller muslimischer Frauen in unseren Gesellschaften vor sich zu haben; aber dem ist dann nirgendwo auch nur annähernd so. Es machte auch gar keinen Sinn, es stigmatisiert lediglich die Fremde, die Medea zweifellos ist, da sie vom Rande der griechischen Welt stammt, aus Kolchis am Schwarzen Meer, noch mehr. Im Zusammenhang dieser Fassung des Stoffes aber ist das Alltagszitat verschleierte Frau einfach nur dumm weil funktionslos.
Dafür, dass der Chor im Gegensatz zur griechischen Tragödie in der spätklassischen Oper keine tragende Funktion mehr hat, kann aber nur die Epoche, in der das Werk entstand, verantwortlich gemacht werden. Das Werk, wenn schon nicht diese Inszenierung, verdiente regelmäßige Beachtung der Opernhäuser!
Wieder einmal zeigt das kleine Theater an der Wien der Staatsoper, wie es eigentlich gehen sollte. Bei aller Kritik nämlich ist die Aufführung insgesamt noch besser als sehr vieles aus dem Repertoire am Ring. Es war zumindest keine Minute öd, was man von manchem anderen dort bekanntlich nicht sagen kann.