Die These, über die der Althistoriker Christian Meier in Kultur, um der Freiheit willen: Griechische Anfänge – Anfang Europas? nachdenkt, ist bestechend: die Griechen haben ihre hochstehende Kultur entwickelt, um ihre Freiheit zu sichern.
Gerade für die Frage, wo unser heutiges Europa herkommt, wie es seinen Anfang nimmt, stehen die beiden Schulen einander gegenüber: die einen betonen die Prägung aus den judäo-christlichen, den monotheistischen Ursprüngen – wie das Heinrich August Winkler in seiner Geschichte des Westens tut -, wohingegen die paganistische Fraktion eher die Antike in der Vorfahrenrolle sieht.
Die alten Griechen, um die es da geht, sind bewandert in den Kenntnissen der Hochkulturen des Ostens wie Ägyptens, deren technisches und kulturelles Knowhow sie bereitwillig importiert und früh schon implementiert haben. Sie sind bewandert in all diesen Fertigkeiten, und dennoch begnügen sie sich nicht allein damit, ihnen weitere hinzuzufügen – sie bilden etwas völlig Neues, nicht nur einen neuen Mix aus ererbten Versatzstücken.
Die Freiheit dieser Griechen ist eine in mehrfacher Beziehung wirkmächtige Konzeption, die weniger in Absenz von Zwang oder Fremdbestimmung besteht, als sie ein aktives und aktivierendes Konzept darstellt: bereits in archaischer Zeit entwickeln die Poleis partizipative Herrschaftsmodelle, die an einer Vielzahl von Orten nach unterschiedlichen Phasen der Tyrannis in gemeinschaftliche Regierungsformen münden, denn selbst die spartanischen Könige sind der Wahl unterworfen. Zu keiner Zeit herrschen in Griechenland die Priester.
Aber es spricht aus dieser Antike auch eine Freiheit des Denkens, auch und gerade den Göttern gegenüber. Das Beachten der Kulte und die korrekte Ausführung der Rituale ist ihnen wichtig, aber ein Selbstzweck werden sie niemals. Es gibt Glaubensinhalte aber keine Theologie, das Denken vermag sich ungehindert vom Mythischen ins Wissenschaftliche zu entwickeln. Die besondere Leistung dieser Griechen besteht in der Setzung des Menschen ins Zentrum der Welt.
Neben der politischen und geistigen Freiheit steht für die Griechen alsbald die physische Freiheit auf dem Spiel: das Ausgreifen des despotischen Ostens in Gestalt des Perserreiches auf den Ägäisraum droht, die in langen Jahrhunderten vorbereitete Entfaltung ihrer Kultur noch vor deren Blüte zu zerdrücken. Doch der Drang der Griechen nach Unabhängigkeit ist stark genug, dass dieses verstreute Volk sich der andrängenden Macht des persischen Großreiches zu erwehren vermag.
Was wäre es, das wir Europäer mit diesen Griechen gemein hätten? Es gibt keine Abstammungslinien zu ihnen zurück, ihr kultureller Einfluss erscheint gebrochen durch die hellenistische Wirtskultur der frühen Ausbreitung des Christentums. In Gestalt religiöser Engstirnigkeit und veritabler kultureller Rückständigkeit hat der Osten die Griechen dann doch noch überrollt – und es ist heute eine Frage der Konzeption dieses Europa, wo wir seinen Beginn ansetzen wollen: die Geburt des Monotheismus in einer Schafhirtengesellschaft der Levante kann es genauso wenig sein wie jenes prächtige, von Genies durchwandelte Athen des vierten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung…
In dieser Hinsicht hat Christian Meier leider zu wenig zu sagen, obwohl er das Thema wirksam in den Untertitel des Buches gestellt hat. So geistreich seine Analyse der griechischen Archaik und ihrer Auswirkungen in die Klassik sein mag, so wenig klar wird, wie er sich die Beziehung der Griechen zu Europa vorstellt. Dass sie den orientalischen Despotismus vom Überschwappen in die Ägäis abgehalten haben, bietet natürlich breite Front für Mutmaßungen, was wohl anders hätte aus diesem eher kleinen Fortsatz der großen asiatischen Landmasse hätte werden können – aber das ist bekanntlich keine historische Kategorie. Doch selbst innerhalb des Rahmens spekulativer Geschichtsstränge wäre mit einem Unterliegen der Griechen gegen die Perser über das Schicksal des weiter im Westen liegenden Kontinents noch nicht zwingend etwas gesagt, außer dass möglicherweise manches oder alles anders gekommen wäre. Aber das ist dann ein historischer Pleonasmus.