Ein Spiegel zweier Jahrhundertanfänge

Philipp Blom scheint ein recht breites Spektrum zu haben: neben dem sehr fachkundigen Buch über die Philosophen der Aufklärung hat er sich nicht minder sachkundig der Jahrhundertwende gewidmet: also nicht den ungustiösen Schüssel-Jahren dieses sondern den ersten dreizehneinhalb des vorigen.

Die Epoche von den letzten Jahren des Neunzehnten in die ersten Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts war geprägt von Entwicklungen, die wir heute noch spüren – und da ist weniger der aufkeimende Irrsinn der Totalitarismen gemeint, die nun ja weitestgehend historisiert sind.

Frappant nah an unseren Tagen zeigt Blom in Der taumelnde Kontinent: Europa 1900-1914 auf, wie Ängste und Hoffnungen zweier Jahrhundertanfänge einander gleichen: eine alles revolutionierende Technik scheint Besitz zu ergreifen von der gesamten Gesellschaft, kein Stein bleibt auf dem anderen, die Wehmutträger der untergehenden Epoche fliehen in Einfachheit und vormoderne Ideologien.

Es ist erstaunlich, wie bekannt einem all das vorkommt. Insbesondere das Kapitel 1911: Paläste für das Volk, in dem Blom sich der neu entstehenden Waren- und Konsumwelt annimmt, erinnert höchst anschaulich an unsere Tage. Man sprach damals nicht von Globalisierung, hatte aber vor dem gleichen Phänomen die gleiche Angst.

Dabei ist Bloms Perspektive eine aus der Zeit heraus: er interpretiert nicht mit dem Wissen des kommenden Sturzes in den Abgrund des Zwanzigsten Jahrhunderts, sondern bemüht sich um die Position eines, dem das alles noch unbekannterweise bevorsteht. So gelingt es, das Bild einer Zeit zu malen, die nicht nur auf den Abgrund zu steuert, sondern – in ihrer eigenen – lebt.

Doch Blom zitiert auch jene kühlen Denker, die bereits dazumal tiefer zu blicken im Stande waren:

Jedesmal wenn [die Industrie] ihre Reichweite vergrößert, erfährt eine große Zahl von Individuen neue Befriedrigung; es erlaubt der blassen und illusorischen, aber doch angenehmen Reflexion des Wohlstands, sogar bis zu den Bescheidensten durchzudringen. Diese Modernisierung ist das Werk unseres Jahrhunderts: Sie gereicht ihm zur Ehre.

schrieb etwa der Historiker Georges d’Avenel – und:

Der Charakter des neuen Luxus besteht darin, daß er banal ist. Wir sollten uns darüber nicht zu sehr beklagen: Vorher gab es nichts, was banaler war als das Elend. Wir dürfen nicht in den kindischen, aber trotzdem häufig zu findenden Widerspruch verfallen, der darin besteht, den Fortschritt der Industrie zu begrüßen, aber die Resultate der Industrialisierung zu beklagen.

Auch einige Zahlen sind nicht weniger als beeindruckend:

Um 1900 hatte [das französische Kauf- und Versandhaus] Dufayel drei Millionen Kunden in seinen Büchern und 3000 angestellte, die das System verwalteten.

1905 richtete Harrods den ersten telefonischen 24-Stunden-Service für Bestellungen ein

Gerne vergessen wird, dass der Siegeszug neuer Medien bereits damals für Furore und Weltuntergangsstimmung bei konservativen Kritikern sorgte – nur waren es diesfalls das Kino und die ersten phonografischen Aufnahmen, die ein Massenpublikum zu versorgen ermöglichten. Und eben deshalb rasch zu einer Differenzierung zwischen dem Geschmack und den Bedürfnissen eben dieser Massen und denen einer gebildeten Elite führten.

Doch die Hinterweltler sitzen nicht unbedingt in der gebildeten Schicht – Abbé Mugnier gibt seinem Entsetzen Ausdruck:

Heutzutage ist man bei sich selbst nicht mehr zu hause. Es wird immer schlimmer werden. Röntgenstrahlen durchdringen dich, Kodaks photographieren dich im Vorbeigehen, Phonographen zeichnen deine Stimme auf. Flugzeuge bedrohen uns von oben.

Philipp Blom ist die Erkenntnis zu danken, dass unsere heutigen Fortschrittsbejammerer bestenfalls banale Kopien jener Generationen von Fortschrittsbejammerern sind, die immer schon an allem Neuen was zu meckern hatten. Im Grunde, will es scheinen, ist die Welt ganz in Ordnung so, jedenfalls solange wir keine ernsthafteren Sorgen haben…

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