Das Monumentalwerk des Historikers Jules Michelet Geschichte der französischen Revolution, zuletzt in einer fünfbändigen Ausgabe nur noch antiquarisch erhältlich, wurde von Zweitausendeins in einer sagenhaft günstigen zweibändigen Taschenbuch-Ausgabe wieder allgemein zugänglich gemacht: über 2.000 Seiten einer geballten, detailreichen, dabei eloquent geschriebenen Darstellung der ersten aller Revolutionen, die unsere Gegenwart erheblich mitbestimmt haben.
Michelet schrieb während der Zweiten Republik zwischen 1847 und 1867 an dieser Geschichte und konnte niemals seine klare Stellung als Republikaner und Demokrat verbergen, er wollte es wohl auch nicht. Der Tatsache, dass das Ancien Régime vollkommen abgewirtschaftet hatte, kommt in seiner Analyse die Rolle einer lapidaren Feststellung zu; die monarchische Regierungsform ist per se überholt, als im Jahre 1789 der französische König Louis XVI die Stände einberufen muss, um sich weiteres Geld aus neuen Steuern bewilligen zu lassen.
Hof, Adel und Klerus unterschätzen vollkommen die kumulierte Wirkung eines langen Jahrhunderts der Aufklärung: unter den Philosophen die Materialisten – La Mettrie, d’Holbach und Diderot, um nur die bekannteren zu nennen -, und vor allem Voltaire und Rousseau haben den Grundstein einer Gesellschaftssicht gelegt, der längst nicht mehr philosophischer Zirkel oder aristokratischer Salons bedarf, sondern in bürgerlichen Kreisen schon selbstverständlich verbreitet ist. Man will sofort Mitsprache, aber nicht nur bei der Bewilligung der Steuern.
Minutiös beschreibt Michelet das Reifen dieser Revolution – und ihren jähen Ausbruch am 14. Juli 1789; aber auch ihr untotes Hinschleppen über mehrere Jahre, bis die herrschende Clique sich schliesslich moralisch und politisch restlos verausgabt hat, die Kriege und die Misswirtschaft das Volk in eine noch schlimmere Situation gebracht haben als zu Zeiten des Königs. Friede ist dann schon alles, was Frankreich will. Doch es bekommt einen Kaiser, der wiederum nichts anderes im Schilde führt als eine endlose Reihe von Kriegen.
Gerade zu Louis XVI – und natürlich der Autri-chienne Marie Antoinette – spricht Michelet klare Worte: so windig und willkürlich die Todesurteile aus damaliger Sicht gewesen sein mögen, aus der Sicht des Historikers, dem Berge von Akten und Beweisen vorliegen, ist das Ergebnis im Rückblick mehr als gerechtfertigt. Der König hat die Verfassung ad absurdum geführt, ganz König in der Runde anderer Herrscher, die Königin hat Frankreich an die Österreicher verraten; die Auswertung der Memoiren, Tagebücher und der diplomatischen Korrespondenzen erweist diese Anschuldigungen als richtig und zurecht erhoben.
Die neuzeitliche Demokratie dankt dieser ersten Französischen Revolution ihr Gesicht und ihre innerste Struktur. Frankreich verdankt ihr die Trennung von Staat und Religion – wir Nachfahren jener bigott katholischen, rückständigen Österreicher nur dieses Vorbild, denn umgesetzt ist es bei uns noch immer nicht.
Im Rückblick ist diese Revolution ein ganz wesentliches Constituens unserer Gegenwartsverfassung. Es war notwendig gewesen, nicht nur damals in einer Situation der Bedrohung durch Emigranten und fremde Mächte, die dem gefangengesetzten Bourbonen zu Hilfe zu kommen trachteten, sondern auch für uns heutige: zu einer Zeit, da man allen möglichen Leuten noch strafweise die Köpfe abschlug oder sie anderweitig zu Tode beförderte, war es geboten, auch einem Monarchen den Prozess zu machen und zu beweisen, dass sein und seiner Königin Kopf genauso rollt wie der jedes anderen Sterblichen.
Die Novität dabei ist, dass da nicht ein Usurpator dem anderen ans Leder geht, sondern eine gewählte Instanz des Volkes einem aus der Tradition sich für herausgehoben erachtenden Snob; getroffen wird der König, gemeint ist ein anderer:
… sagte Desmoulins, „es ist wahr, die Könige sind reif, aber der liebe Gott ist es noch nicht.“
Nebenbei ist auch das Volk noch nicht soweit. In den ländlichen Regionen, namentlich in der Vendée, die noch den heutigen Franzosen als ein Musterbild der Rückständigkeit gilt, verwechselt man den König mit der Religion, die Priester schüren die Furcht der Frauen, und die tragen die papistische Verschwörung in die Familien und klopfen ihre Männer weich, sich im Gefolge der Schwarzröcke gegen die Revolution aufzulehnen.
Dabei geraten Religion und Politik durcheinander. Die Revolution möchte die Priester und Bischöfe dem weltlichen Gesetz unterwerfen und dem Einfluss des Papstes entziehen. Was eine Frage der Politik ist – etwa in der Besoldung der Kirchenleute -, wird sofort auf die religiöse Ebene transponiert. Doch kocht hier nur der Papst sein durchaus weltliches Süppchen; er sitzt ganz offen im Boot mit dem Ancien Régime.
Der Kampf dieser Revolution wird zu früh an zu vielen Fronten geführt. Was als politisches Unternehmen gegen die alte Macht beginnt, endet als umfassende Schlacht mit jenseitigen Mächten. Am Ende des bürgerlichen Zeitalters ist die Religion, wenn auch noch scheinbar fest verankert, in Wirklichkeit entwurzelt; auch diese Entwicklung wird, wiewohl schon vor 1789 begonnen, durch die Revolution angeschoben. Die Fragen, an denen die Revolution scheitert, stellen sich weiterhin im Kaiserreich und in der Restauration und lösen sich in der Zweiten Republik.
In der detaillierten Darstellung Michelets wird offenbar, wie Revolutionen ablaufen: das Volk bricht sie vom Zaun, und ohne das Volk gedeihen sie nicht. Das Volk aber kann die Früchte der Revolution nicht ins Trockene bringen, sie fällt den Revolutionären anheim – und die machen sie kaputt; entweder sie verfolgen insgeheim nur ihre eigenen Ziele, oder sie reiten die gesamte Revolution auf ihren hohen Prinzipien zu Schanden. Man kann das an allen so genannten Revolutionen seither beobachten: ihr Ausbruch gehorcht einer exogenen Notwendigkeit, ihr Ende aber der Gesetzmäßigkeit ihrer immanenten Selbstaufhebung.
Die zentralen tragischen Figuren dieses Dramas sind Georges Danton und Maximilien de Robespierre. Um sie herum gruppiert Michelet seine kunstvoll gebaute Erzählung. Sie ringen miteinander, ringen mit der zeitgleichen politischen Verspätung und explosiven Radikalität ihrer Zeitgenossen, sie kämpfen gegen Royalisten, den Klerus und die Indifferenz des Volkes, kämpfen aber immer auch gegen sich selber und ihre ererbten Prädispositionen.
In Frankreich sind die Überreste dieses Ereignisses, dieser Periode, wohl am wirkmächtigsten: der Laizismus, die Ecole polytechnique, das Panthéon gehören bis heute in den Alltag der Franzosen. Es ist beileibe nicht so, dass die Französische Revolution ein Schritt auf dem Weg ins demokratische Europa war; nicht aus der Sicht jener Epoche. Aus dem Rückblick von heute zurück in die Jahre ab 1789 könnte man diesen Eindruck gewinnen; und wäre man gar Hegel, könnte man daraus gezielt den falschen Schluss ziehen.
Doch es ist keineswegs so, dass die Franzosen am Ende des 18. Jahrhunderts etwas für uns tun wollten. Über lange Sicht hat sich lediglich herausgestellt, dass einiges von dem, was sie schufen, bis auf uns gekommen ist: die Menschenrechte, das Recht der Völker auf Selbstbestimmung, die Demokratie als gerechteste Regierungsform, die Republik als Grundlage eines gedeihlichen Gemeinwesens. Merci beaucoup.