Biografisches Material zu einem Kontinent

Ein nicht so neues Buch, aber mir erst bei einem Buchhandlungsbesuch in Cape Town in die Hände gefallen – wie überhaupt mein Interesse für Afrika erst eines Aufenthalts auf diesem Kontinent bedurfte – ist John Reader’s Africa. A Biography of the Continent.

John Reader - Africa. A Biography of the Continent

Reader ist Journalist und nicht Wissenschafter, das tut dem Text gut. Er scheint aber auch die unterschiedlichen Wissensgebiete, Historiographie im weitesten Sinne, von der Geologie bis zur jüngsten politischen Geschichte eingehend studiert zu haben, denn sein Buch zeugt nicht nur von weitgefächertem Überblick sondern, an sehr vielen Punkten, wenn das bei einem so riesigen Vorhaben überhaupt geht, von erstaunlicher Tiefe des Wissens und der Einsicht.

Reader breitet sein Material vor dem Leser aus, stellt dar und gegeneinander, referiert und dokumentiert, doch er scheut sich am Ende auch nicht, seine Position zu beziehen; natürlich ist Reader ein Europäer, und das mag ja vielleicht schon ein hinreichender Grund zu sein, ihn ideologischer Einseitigkeit zu verdächtigen. Doch sein Text müht sich ehrlich ab, dem Kontinent zu lassen, was des Kontinents ist – wobei das natürlich nicht immer den romantischen Vorstellungen vom einstmaligen Paradies, das von europäischen Kolonisatoren zerstört wurde, entsprechen kann.

Dieses Afrika hat ein recht langes Leben, ehe erstmals Europa in seine Geschichte eingreift.

Wohl, diese Epochen sind wenig dokumentiert, am besten wohl noch dort, wo sich die Biografie Afrikas mit der Urgeschichte der Menschheit trifft: enthalten in der Biografie des Kontinents ist eine hervorragend geschriebene knappe Zusammenfassung der Evolutionsgeschichte der menschlichen Art, soweit das beim heutigen Stand des Wissens schon geht, denn in Afrika steht nachgewiesenermassen die Wiege der Menschheit.

Reader entwickelt ein Panorama der Wirtschaftsformen, die nahezu die gesamte voreuropäische Geschichte des Kontinents über im zähen Ringen mit der mächtigen, einschneidenden Natur in ihren so vielfältigen Erscheinungsformen, die von den Wüsten und Savannen, den Hochländern und Flusstälern bis zu den Urwaldregionen am Äquator reichen, bestanden haben.

Er erklärt, wie eng in einer wenig entwickelten Subsistenzwirtschaft Bevölkerungszahl – und damit Arbeitskraft – mit der Produktion von Nahrungsmitteln zusammenhängt, wie rar selbst in den letzten fünftausend Jahren die indigenen Entwicklungsleistungen waren, wie der Fortschritt, der aus anderen Regionen importiert wird, sei es der Domestizierung von Rindern oder der Kultivierung von Nutzpflanzen, immer mit den klimatischen Bedingungen und vor allem ihren Unwägbarkeiten, Schwankungen und Umschwüngen kollidiert. Denn natürlich bringen die importierten verbesserten Sorten und Nahrungsmittel bessere Erträge und befreien die Afrikaner von den engen Fesseln der Subsistenzwirtschaft, um endlich auch hier Freiraum für weitere Entwicklung und Zivilisation zu schaffen, doch erweisen sich in klimatischen Krisen die ursprünglichen einheimischen Pflanzen als widerstandsfähiger, als angepasster in zu trockenen oder zu feuchten Konditionen.

Reader tut den Afrikanern womöglich zwar einen Gefallen, aber bestimmt nicht recht, wenn er für die schleppende Entwicklung, die sich immer wieder an der vergleichsweise niedrigen Bevölkerungsdichte festmachen lässt, ausschließlich Klima und Vegetation verantwortlich macht. Dennoch scheint im Text ein wenig durchzuschimmern, dass es auch an einem Mangel an Herausforderungslust gelegen haben könnte.

Natürlich entwickeln sich Zivilisationen samt ihren Errungenschaften in klimatisch begünstigten Zonen besser und schneller als in Randgebieten mit erschwerenden Umweltfaktoren. Doch auch in den fruchtbaren und zum Überfluss geradezu einladenden Gebieten, an den großen Seen in Zentralafrika, wo sowohl Viehwirtschaft als auch Ackerbau und Fischerei erfolgreich zu betreiben waren, schossen keine Zivilisationen in die Blüte; schuld waren wohl die Elefanten, die im Grunde im selben Umfeld ihre Lebensgrundlage fanden und – eigentlich bis zur Landnahme durch die Europäer – in harscher Konkurrenz zu den menschlichen Ansiedlungen standen.

Es muss wohl so etwas wie eine anders gelagerte Weltsicht dahinter stecken, wenn in Jahrtausenden die Menschen dieses Kontinents dieses und andere ihnen von ihrer Umwelt gestellte Probleme kaum angehen mochten, geschweige denn lösen. Liegt es umgekehrt an der Absenz von Elefanten, dass in Europa eine Reihe von starken Zivilisationen entstanden? Das scheint doch ein wenig simpel. Für die Situation in Afrika ist das Gleichgewicht zwischen Menschen und Elefanten wohl eine probate und richtige Beschreibung; eine Erklärung wird sie nicht abgeben können.

Was dem Elefanten nicht zugestanden werden soll, kann vielleicht – am anderen Ende der Größenskala – der Tsetsefliege in die Schuhe geschoben werden.

Nun, die Natur ist an sich freigiebig, sie lässt alle erdenklichen Arten leben und gedeihen; ab einem gewissen Niveau der Entwicklung allerdings beginnt sie, Grenzen zu setzen. Die Geschichte der Menschheit – man möchte fast sagen: außerhalb Afrikas – ist jedoch eine Geschichte der kontinuierlichen Verschiebung dieser Grenzen.

Für ökologische und Sozialromantiker ist dies wahrscheinlich die Herausforderung schlechthin, darin einen paradiesischen Urzustand zu sehen, in dem noch alles in Ordnung ist, im Gleichgewicht, in Harmonie. Dass aber diese Harmonie ein Konstrukt des Denkens viel späterer und höher entwickelter Zivilisationen ist, entgeht ihnen geflissentlich.

Auf dem Niveau afrikanischer Subsistenzwirtschaft, wie sie auch heute noch in weiten Teilen des Kontinents vorherrscht, steht der Harmonie jedoch ein Überlebenskampf entgegen, bei dem das niedrige technische Niveau lediglich die Härte und Rücksichtslosigkeit der Überwindung der Natur verschleiert.

Kitzlig wird die Aufgabe, die sich John Reader für sein Buch gestellt hat, dann vor allem ab dem Zeitpunkt, wenn rücksichtslose europäische Wirtschaftsmacht mit den wackligen lokalen Strukturen zusammentrifft. Es ist keineswegs zu verschleiern, dass das von Seiten der Entdecker und alsbald der Kolonisatoren in äußerste Brutalität ausartete.

Allerdings sind sowohl das Hinschlachten von Feinden oder Gefangenen wie auch die Sklaverei – in Folge von Kampfhandlungen oder ökonomischer Depravation, samt dem Verkauf in die Sklaverei – durchaus einheimische und nicht einmal rare Erscheinungen. Man kann es und darf es vermutlich so sehen, dass die gesteigerte Nachfrage, die sich aus dem Markteintritt der Europäer ergab, die Sklavenwirtschaft enorm anzukurbeln imstande war; doch so auch bei anderen Produkten, die auf der Wunschliste der Europäer standen. Und nicht alle diese Produkte wurden von den Eindringlingen in Eigenregie erzeugt; vieles kam durch Handel auf verzweigten und langen Wegen aus dem Innern des Kontinents, lang bevor die Europäer erstmals dorthin vorstiessen oder gar ihre Verwaltung direkt bis dort hinein erstreckten.

Die technische und zivilisatorische Überlegenheit der Europäer machte allerdings rasch klar, zu wessen Gunsten jede Konfrontation ausgehen würde, nahezu gleichgültig, auf welchem Gebiet.

John Reader breitet reichliches Material zu diesem breiten Themenkreis aus, nennt die Verbrechen beim Namen, auch ihre Urheber, doch er spart auch nicht mit jenen Informationen, welche die andere Seite erleuchten:

A history of slavery in Africa claims that between 30 and 60 per cent of the entire population were slaves during historical times. If this is correct, the number of people enslaved in Africa far exceeded the number taken from the continent by the slave trade. In fact, given then volume of the demand for lsaves within the continent, the shipping of slaves across the Atlantic should prhaps be seen as an extension of the internal market.

Und für die Zeit nach der Sklavenbefreiung in den europäisch dominierten Teilen der Welt:

Population data collected by French officials indicate that, by the end of the nineteenth century, slaves constituted 30 to 50 per cent of all people living in the great swathe of Sahelian grasslands extending from the Atlantic coast of Senegal to the shores of Lake Chad. Near some commercial centers the proportion reached 80 per cent… Only the United States in 1860, with nearly 4 million slaves, had more people in slavery than the Sokoto caliphate in 1900.

Richtig schwierig aber wird die Lage eines jeden Autors, der über afrikanische Geschichte schreibt, wenn der Fortgang der Erzählung sich der postkolonialen Epoche nähert. Es gibt nicht nur Horrorgeschichten, es gibt auch Erfolgsmeldungen, das zu betonen hat sich ein Teil der afrikanischen Presse derzeit – wie ich mich beim Aufenthalt in Südafrika überzeugen konnte – verschrieben. Dass allerdings der Zustand, in dem die meisten Staaten auf dem Kontinent, und schon gar jene südlich der Sahara, sich befinden, nicht gerade ein Übergewicht der positiven Ereignisse erkennen lässt, liegt auf der Hand.

Das ganze fluggs und seit fast sechzig Jahren den ehemaligen Kolonialmächten in die Schuhe zu schieben, ist aber auch nicht wirklich sinnvoll. Viele der Probleme rühren daher, dass man sich an den Sozialismus gewandt hat, und das teilweise noch heute tut, um rasche Lösungen für tiefgreifende Probleme zu finden. Doch sozialistische Ideen haben noch nie das Prosperieren von Gesellschaften oder das Wohlergehen der Masse befördert; sie haben sich in erster Linie der Zerstörung von Strukturen gewidmet, die sich immer zugleich als eine Zerstörung der Lebensgrundlagen herausgestellt hat; und sie haben stets eine Verantwortungslosigkeit des Einzelnen für das Gemeinschaftseigentum und Gemeinwohl etabliert.

Am Beispiel Südafrikas in der Ära nach der Apartheid kann man sehen, dass der Verzicht auf sozialistische Experimente gedeihliches Wirtschaften ermöglicht, das langsam aber stetig eine Besserung der Lage breitester Schichten mit sich bringt; problematisch ist dabei allerdings, dass in manchen Schichten die Bevölkerung rascher wächst als die Wirtschaft, was zu einer Ausweitung der Distributionsprobleme führt. Aber dieses Problem vermöchte auch kein Sozialismus in den Griff zu kriegen!

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