Ich kann gar nicht sagen, wann ich den Orfeo zuletzt live gesehen habe – ich weiß noch wo, im Hof des Stuttgarter Schlosses, aber es wäre mühsam, zu rekonstruieren, wann genau das gewesen sein könnte: es ist auf jeden Fall mehr als zwanzig Jahre her. Inzwischen habe ich mich CDs und DVDs begnügt: der Zürcher Einspielung von Harnoncourt/Ponnelle oder die Brüsseler Einspielung von Jacobs/Keenlyside…
So ist es natürlich eine riesige Freude, wenn das Theater an der Wien sich des Werks mal wieder für eine ernsthafte Aufführung annimmt! Engagiert wurde dafür der Frankfurter Claus Guth, der am Haus auch bereits die szenische Umsetzung von Händels Messiah verantwortete.
Und es ist in höchstem Maße gelungen: die antiken Schicksale erstehen in einem raffiniert einfachen Kammerspiel wieder auf. Sind die ersten beiden Akte noch realistisch gesetzt, Hochzeit und Verlust der Braut, so versetzt die Regie die weiteren Akte in die Einbildung des vor Trauer wahnsinnigen Orpheus, und umgeht damit eine Peinlichkeit, wie sie etwa bei Ponnelle aus dem Märchenhaften resultierte, in der seltsame Monstren ihr Unwesen trieben. Bei Guth sind auch die Götter der Unterwelt wie des Olymp zunächst einmal Vertreter desselben Jahrhunderts, aus dem auch Orpheus stammt, derselben Gesellschaftsschicht, derselben Geisteshaltung. Das tut der Interpretation sichtlich gut.
Ausstattung und Bühnenbild von Christian Schmidt sind passenderweise im Hier und Jetzt beheimatet, eine gewaltsame Umdeutung wird gar nicht erst versucht, es bleibt die Geschichte einer tragischen Liebe, die zu so außerordentlicher Verzweiflung führt, dass sogar die Unterwelt mit einbezogen wird. Nicht mehr, aber zum Glück auch nicht weniger.
Den Orpheus singt der Brite John Mark Ainsley mehr als tadellos, hat er doch jüngst für diese Rolle den Münchner Festspielpreis zugesprochen erhalten; auch in Wien gibt es rein gar nichts zu mecker, ein bewältigt die darstellerischen wie die musikalischen Klippen mit fühlbarer Spiel- und Singfreude – die Partitur schreibt ihm einfühlsamen Gesang gleichwohl vor wie stilles Verzweifeln und Ausbrüche wahnsinnig machenden Schmerzes. Als Charaktertenor beherrscht Ainsley das souverän.
Seine Partnerin Euridike – die norwegische Sopranistin Mari Eriksmoen – hat leider vergleichsweise wenig zu singen, bringt das dafür aber umso besser auf den Punkt.
Zentraler steht in der Geschichte schon die Dreigestalt Musica / Messaggiera / Speranza dem begnadeten Sänger gegenüber: die Schwedin Katija Dragojevic bleibt dabei stets im Bereich des Wohltönenden; gleichfalls die Slowenische Sopranistin Suzana Ograjensek als Ninfa und Unterweltsherrschersgemahlin Proserpina.
Diese düstere Unterwelt repräsentierte ein in Schattierungen glänzender Philip Ens als Charon und Pluto mit ausgewogenem, wie gewohnt präzisem Bass.
Als Vater des Orpheus und Gott Apoll gibt der italienische Tenor Mirko Guadagnini sein strahlendes Debüt am Haus: stimmliche Kraft, die nicht der feinen Arbeit im Weg steht, zeichnet ihn aus.
Die Hirten und Geister sind mit Cyril Auvity, Jeroen de Vaal, Jakob Huppmann und Maciej Idzorek besetzt, sie bilden eine markante Kerngruppe in der quirligen Schar, die wie immer profund und gesanglich stimmig vom Arnold Schönberg Chor in der Einstudierung von Erwin Ortner gestellt wurde – es ist in der Tat ein Wunder, welch breites Repertoire das Ensemble zu bewältigen versteht. Und dabei sind sie meistens unbesehen besser als etwa der Staatsopernchor.
Das Freiburger Barockorchester, verstärkt um das eigens für Monteverdi gegründete bayrische Monteverdi Continuo Ensemble, musiziert unter der Leitung von Ivor Bolton einen luziden Monteverdi, ganz und gar glaubwürdig Urvater der Oper, einen noch unverschnörkelten Barock mit geraden Gesangs- wie Melodielinien.
So macht Oper Spaß.