Opium für Intellektuelle

Nun hat ja Marx schon früh – im Gefolge von Ludwig Feuerbach, den er dann genauso nicht mehr kennen wollte, wie er alle seine Stichwortgeber verleugnet, verfolgt und vergessen hat – die Religion als Opium des Volkes bezeichnet; und Lenin ist darin nur präzise gefolgt. Originäre Denken waren sie alle nicht.

Was aber gerade Lenin aus dem atheistischen Kommunismus machte, war nichts weniger – aber halt auch nicht mehr – als eine Religion. Natürlich durfte man das nicht sagen. Zuerst nicht, weil Lenin sich die Zeit genommen hätte, um einen niederzuschreiben, wie er es in seiner argumentativ etwas wackligen Schrift Materialismus und Empiriokritizismus mit der analytischen Philosophie versuchte; späterhin, nach der glorreichen Revolution, weil er einem einfach einen Genickschuss verpassen lassen konnte – soferne man sich in seinem Einflussbereich befand.

Warum aber vermochte die marxistische Idee in ihrer Verwirkichungsform des Bolschewismus einen nachgerade enthusiasmierenden Einfluss auf Intellektuelle zu gewinnen, die in sicherer Distanz außerhalb der Sowjetunion lebten?

Michail Ryklin - Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution

Der russische Philosoph Michail Ryklin hat mit seiner Monografie Kommunismus als Religion: Die Intellektuellen und die Oktoberrrevolution eine gute Studie zu jenem Teil der Intellektuellen vorgelegt, die sich beeindrucken und vereinnahmen ließen, jedoch unter dem Aspekt der Rückkehr aus Moskau, wie Jacques Derrida das viel viel später treffend genannt hat.

Nun ist es ja eine bekannte Tatsache, dass an dem ganzen Marxismus wenig dran ist, das man nicht erst mittels intensiven Glaubens – wider alle Realität – zum Leben erwecken müsste. Doch das ist nicht primär gemeint; Ryklin weist stringent nach, wie aus der programmimmanenten Forderung nach Atheismus eine Religion des Sozialismus entstehen musste. Und wie Lenin sie schuf und mit Inbrunst verteidigte.

Über die Wirksamkeit dieser Religion nach innen ist viel geschrieben worden: auch Lenin war ein Mörder seines Volkes. Die Fortschritte des Sozialismus sowjetischer Prägung waren allein für die Auslage. Drinnen im Geschäft gab es nichts zu kaufen. Aber die Auslage zog immerhin einige begnadete Köpfe aus dem Westen an. Gut, die Bolschewisten hatten ihre Lektionen von Potemkin gelernt; man behandelte die westlichen Reisenden mit ausgesuchter Höflichkeit und liess es auch an Luxus nicht mangeln; und man führte ihnen bevorzugt jene Errungenschaften vor, die sich da und dort auch tatsächlich herzeigen liessen.

Bertrand Russell hielt viel von sozialistischen Ideen, zumindest aber davon, dass es den Menschen besser gehen sollte – und er sah im Sozialismus, wenn auch nicht in dessen marxistischer Prägung, durchaus einen Weg, dies Ziel zu erreichen.

Wer dem Bolschewismus zustimmt, wird unzugänglich für wissenschaftlichen Beweis und begeht intellektuellen Selbstmord.

Er konnte niemals den Materialismus der Marxisten und schon gar nicht seine vorgeblich wissenschaftlichen Implikationen nachvollziehen. Seine Reise von 1920 ins revolutionäre Russland, noch bevor es in Sowjetunion umbenannt wurde, brachte ihm denn auch in erster Linie Ernüchterung:

Ich bin gezwungen, den Bolschewismus aus zwei Gründen abzulehnen: erstens, weil der Preis, den die Menschheit für die Errichtung des Kommunismus durch bolschewistische Methoden zu zahlen hätte, allzu schrecklich ist; und zweitens, weil ich nicht glaube, dass selbst nach Zahlung des Preises das Ergebnis so wäre, wie die Bolschewisten es zu wünschen vorgeben.

Man kann dieser Hellsichtigkeit (in Theorie und Praxis des Bolschewismus) nicht mehr viel hinzufügen.

Demgegenüber machte sich Walter Benjamin seine Gedanken vom Christentum her: der Kapitalismus habe das Christentum so weitgehend usurpiert und in sich aufgenommen, dass eine Geschichte des Christentums immer eine Geschichte des Kapitalismus wäre. Sein Moskauer Tagebuch ist auch heute noch als ein Dokument schleichender Desillusionierung zu lesen. Damit fällt aber auch Benjamin als Kronzeuge für den Bolschewismus aus. Wahrscheinlich hat sein Freund und Briefpartner Gershom Sholem eher recht: der Kommunismus sei keine Religion, sondern eine Parodie einer Religion. Politik.

Benjamin ist der KPD niemals beigetreten, auch nicht nach der Machtergreifung Hitlers. Sehr wohl auf den Weg durch die Institutionen machte sich Arthur Koestler, der von 1931 bis 1938 Mitglied der KPD war, sich jedoch von dem ganzen Zauber mit Bekanntwerden des Hitler-Stalin-Paktes schleunigst verabschiedete. Aber schon im Spanischen Bürgerkrieg, wo er auf Seiten der Linken mitkämpfte, musste er sich der Wahrheit nach und nach stellen, wenn er sah, wie die Abgesandten Moskaus andere Vertreter linker Richtungen beseitigten, um die Macht an sich zu ziehen und zu festigen – denen es als niemals um die Sache, immer nur um die Macht ging.

Aber Koestler durchschaute allmählich auch, wie wenig wirkliche Idee in all dem steckte (aus Der Yogi und der Kommissar, 1945):

Der Kommissar glaubt an die Wandlung von aussen her. Er glaubt, dass alle Seuchen der Menschheit, einschließlich der Verstopfung und des Ödipuskomplexes, durch Revolution geheilt werden können und tatsächlich auch geheilt werden, nämlich durch eine radikale Umbildung des Systems der Gütererzeugung und Güterverwertung; er glaubt, dass dieser Zweck alle angewandten Mittel heiligt, sogar Gewalt, List, Verrat und Gift.

Die Reihe der Moskau-Reisenden setzt Ryklin fort mit André Gide, Lion Feuchtwanger und – natürlich – Bert Brecht:

… seine Vorstellung von Stalin als einem einfachen Menschen, der sich um das Wohl der anderen sorge, und von der Sowjetunion als einem Land, in dem der größte Traum der Menschheit verwirklicht worden sein, hatte ein alptraumhaftes Pendant.

Und doch hat Brecht Schweden und die Vereinigten Staaten der Sowjetunion vorgezogen, als es um sein Asyl vor dem Nationalsozialismus ging, und späterhin Österreich, wo man ihn sehr anfeindete, der DDR, die ihn immerhin zu ihren Großen zählte.

Was erklärt also die magische Anziehung, die der Bolschewismus oder die Sowjetunion auf westliche Intellektuelle – denn in Russland gab es keine, für die beides zutraf: Intellektuelle zu sein und das System für gut zu halten – ausüben konnten? Es sind wohl die üblichen Sehnsüchte nach einer besseren Welt, nach einfachen Lösungen, nach Befreiung von der Fron: mit Ausnahme von Russell, der vermögend war und also aus bloß humanistischen Überlegungen zum Sozialismus tendierte, hatten alle ihre lieben Schwierigkeiten, zu Geld zu kommen, auch Brecht, bei dem es eher darum ging, genug davon für seinen aufwändigen Lebensstil zu haben.

Nachgedacht hat aber offenbar keiner von ihnen.

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