Jener Alexander Jakowlew, der bis in die Tage Gorbatschows Teil des Apparats war, hat eine vernichtende Anklage über das politische System der Sowjetunion geschrieben:
In Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland läßt uns in eine lange, blutige Geschichte der Sowjetunion blicken, die nicht erst mit Stalin begann und die auch keineswegs mit ihm zu Ende ging, wie viele verkürzte Darstellungen uns glauben machen möchten.
Neben einer minutiösen Auflistung dieser Verbrechen leistet Jakowlew aber auch eine Demaskierung von Bürokratie überhaupt: denn sie neigt natürlich – und nicht erst seit Eichmann – dazu, selbst die größten Verbrechen handhabbar zu machen, ihnen eine Aktensprache zuzueignen, sie in Abstraktionsformen zu bringen, die bar jeder Rechtfertigung – denn eine solche könnte womöglich an die Grenzen des Nachdenkens führen – Verwaltungsakte setzt. Natürlich muss irgendwann irgendwo irgendwer auch die Drecksarbeit machen. Aber Leute dafür waren noch in keiner Epoche und keiner Gesellschaft Mangelware – und sie liessen sich bestimmt auch heute in unseren swestlichen Demokratien wieder leicht rekrutieren…
Ohne Bürokratie sind Verbrechen auf staatlicher Ebene nicht denkbar und schon gar nicht durchführbar. Auch eine politische Polizei und ein revolutionäres Heer vermögen nicht losgelöst von der alles durchdringenden Bürokratie zu agieren.
Ein wahrhaft satirisches Kapitel ist Jakowlew unter dem Titel Die Intelligenzija gelungen: denn der Bolschewismus betrachtet natürlich auch Wissenschaft, Kunst und Kultur als Akte der Bürokratie. Insoferne muss es natürlich Gremien geben, Kommitees, Ausschüsse, Sitzungen, denn auch Kunst, Wissenschaft und Kultur haben verwaltet zu sein. Es musste nicht erst Stalin kommen, der mit einem Artikel in der Prawda seinen Mißmut über Schostakowitsch kundtat. So etwas kam vor. Häufiger aber haben die Kulturbürokraten das von sich aus geregelt. Sie saßen an den Töpfen und bestimmten, wer Zugang zum Futter bekam.
Und natürlich produzierten sie – wie es von ihnen erwartet wurde – ihre Opfer, denn auch unter den Schriftstellern, Komponisten, Künstlern und Theaterschaffenden musste es selbstredend Verräter, Abweichler, Konspirateure, Saboteure, Trotzkisten, Juden und anderes gerade zur Verfolgung bestimmtes Gelichter geben. Und natürlich ergibt sich daraus, was Kunst ist, was Wissenschaft.
Den gesamten Gegensatz, der sich in der sowjetischen Geschichte austobt, könnte man in das Begriffspaar Sozialismus und Individuum fassen: der Sozialismus anerkennt kein Individuum, und ein solches würde auch seine Grundlagen sprengen. Der Mensch ist Empfänger der Wohltaten des Sozialismus; zu wünschen hat er nicht und nichts. Folglich definiert auch der Sozialismus, was der Mensch ist; könnte der Mensch das selbst, wäre er Individuum – und damit Feind. Wer sich also nicht damit zufrieden gibt, ein Mensch im Sozialismus zu sein, sondern vielleicht gar darauf besteht, Jude, Muslim, Ingusche, Tschetschene oder Kosake zu sein, Talente und Innovationskraft zu haben oder eventuell die eigene Kreativität auszuleben – der sprengt den Sozialismus.
Man kann das als Auswuchs eines die vorgesehenen Bahnen der Entwicklung verlassenden Systems sehen – einen Betriebsunfall der Geschichte. Man kann es aber auf seine Wurzeln hin untersuchen: der Sozialismus braucht eine nicht abreissende Kette von Opfern, denn seine immanente Logik sagt ihm, dass er Feinde haben würde, solange es Individuen gäbe. In die allerletzte Konsequenz weiter gedacht, kann ein sozialistisches System also nur dann ohne Gewalt funktionieren, wenn das letzte Individuum umgebracht ist.