Dass Adolf Hitler sich selbst in Mein Kampf als den Weltkriegsgefreiten stilisierte und die NS-Propaganda das übernahm, großzügig ausschmückte und bis in religiöse Sphären erhob, ist für die damalige Zeit verständlich. Dass diese Positionierung auch von der späteren kritischen Geschichtsschreibung durchwegs übernommen wurde, ist schon weniger verständlich.
In seiner bahnbrechenden Studie Hitlers erster Krieg: Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit geht Thomas Weber, der schon mit Ian Kershaw an dessen monumentaler Hitler-Biografie arbeitete, dem Phänomen auf den Grund – und untersucht nebenher ein paar nicht unwesentliche historische Fragen.
Eine der Erklärungslinien für den schrecklichen Absturz Deutschlands in die Barbarei des Dritten Reiches wird gewöhnlich dem Erlebnis des Ersten Weltkriegs zugeschrieben; in den Schützengräben vor allem der Westfront wären, so der allgemeine Tenor, die jungen Deutschen nicht bloß desillusioniert worden sondern von der Bestialität und Brutalität dieses Krieges geprägt worden, sodass des weiteren kaum mehr etwas anderes als das Desaster des nächsten Weltkriegs habe herauskommen können.
Der Weltkriegskamerad Hitler habe in den Kriegsjahren eine Prägung erhalten, wie sie einer ganzen Generation zum Verderben wurde, ja die Überlebenden der Schützengräben seien selbst allesamt potentielle Hitlers gewesen – daher auch die überragende Zustimmung der Deutschen zu Hitlers Machtergreifung und Diktatur.
Verdienstvoll an Webers Studie ist allein schon die Tatsache, dass sie diese Geschichtslinie als Fälschung erweist: Hitlers Kameraden waren weder verroht noch brutalisiert aus dem Weltkrieg zurǘck gekehrt, auch teilten die wenigsten seine Ansicht über die Schmach der Niederlage und die sogenannte Dolchstoß-Legende. Durchwegs war den Kriegsheimkehrern der Krieg zuwider, sein Ende vor allem – auch als Niederlage des Kaiserreichs – sehnlicher erwünscht als alles andere. Weber konstatiert wenig Veränderung in den Weltanschauungsmustern dieser Generation – und erweist Hitler hiebei als eindeutige Ausnahme.
Auch war das Regiment List – das Reserveinfanterieregiment 16, dem Hitler den gesamten Krieg über angehört hatte und dem er die Prägung seiner Weltanschauung und seine Berufung zum Politiker zu verdanken behauptete – keine Brutstätte des Nationalsozialismus. Kaum traten Mitglieder des Regiments in die Nazipartei ein, sogar weniger als im Durchschnitt Bayerns.
Ein weiteres Anliegen Webers gilt dem Nachweis, dass Hitler alles andere als ein Frontsoldat gewesen sei – was ihm anhand einer Vielzahl von Dokumenten in ausreichender Dichte gelingt. Adolf Hitler war beinah den ganzen Krieg über Meldegänger – was mit seinen Behauptungen übereinstimmt -, jedoch beim Regiment und nicht in vorderster Front. Er war also in der Diktion der in den Gräben dienenden Kameraden ein „Etappenschwein“ – ganz zum Unterschied von den späteren eigenen Berichten. Hitler war kaum je im direkten Kampfgebiet. Auch seine Lazarettaufenthalte sind nicht ausnahmslos irgendwelcher Kampfeinwirkung geschuldet. Der Weltkriegsgefreite machte sich in den Augen seiner Regimentskameraden weit hinten ein angenehmes Leben – und der unmittelbaren Nähe zu den Kommandierenden verdankt er auch seine Auszeichnungen – allen voran das Eiserne Kreuz erster Klasse, das – wie Weber nachweist – eher Soldaten verliehen bekamen, die sich hinten in der Nähe einflussreicher Offiziere aufhielten als solche, die im Schlamm der Gräben ihre Köpfe hin hielten.
Es ist erstaunlich, dass es in der biografischen Forschung zu Adolf Hitler so lange gedauert hat, bis jemand sich des Lügen- und Märchengespinstes um Hitlers ersten Krieg angenommen hat. Die meisten Biografien und historischen Darstellungen gingen von der Korrektheit seiner eigenen Propaganda aus. Warum eigentlich? Seine Geschichten haben die Zeitgenossen irregeführt – und bis eben auch die Nachwelt.