Und wo steckt Lenin?

Das war schon die Frage, als Dmitri Shostakovich im November 1939 seine Sechste dem Publikum vorstellte. Zum Glück brauchen wir ihn heute nicht mehr krampfhaft in dem Werke zu suchen.

Das Russische Nationalorchester gastierte unter dem jungen Vladimir Jurowski im Konzerthaus – mit einem Programm russischer Musik aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Den Anfang machte Rachmaninows Tondichtung op.29 Die Toteninsel über ein Bild des schweizer Malers Arnold Böcklin. Hier ist (1909) natürlich noch nichts von der bedrückenden Einflussnahme des Bolschewismus auf die Musik zu bemerken. Gleichfalls stammt das Klavierkonzert No.3 von Sergei Prokofiew noch aus einer Zeit – und aus dem amerikanischen Exil -, wo davon nicht die Rede sein konnte.

Anders bei Shostakovich: 1939 war Stalin bereits bis tief in die kreativen Köpfe seines Landes eingedrungen. Der Komponist hatte mit seiner Fünften 1937 großen ERfolg, obgleich ihm unmittelbar davor vorgeworfen worden war, ein Feind es Volkes zu sein, ein intellektueller Musiker im Stile des Westens. Und just in diesem Erfolg kündigte er an, als nächstes eine Symphonie über das Leben Lenins zu schreiben. Das mag als taktisches Manöver durchaus seine Berechtigung gehabt haben, könnte aber heute seiner Sechsten schief ausgelegt werden. Dennoch besteht kein Grund dazu. Die Zeitgenossen suchten nahezu verzweifelt nach dem angekündigten Porträt, der Komponist äußerte sich nicht weiter dazu. Irgendwann auf dem Weg ist der Plan – zum Glück für die Nachwelt – offenbar verloren gegangen.

Die Symphonie No. 5 in b-moll ist auch musikalisch ein seltsames Gebilde: die Hälfte des eröffnenden Largo steht in e-moll, getragen, ernsthaft, beizeiten sogar lyrisch, doch an keiner Stelle heldenhaft, großspurig oder pathetisch, wie man es hätte vielleicht erwarten können oder müssen. Folglich fiel es den Zeitgenossen schwer, darin den Revolutionsführer wieder zu finden. Und heutigen kann das gottlob egal sein. Das Allegro ist lebendig, ja scherzhaft, erinnert mehr an Prokofiew als an musikalisch gewaltsame Heldenverehrung, wohingegen das finale Presto mit seiner an vaudevilles erinnernden Atmosphäre fast schon den Gedanken prvoziert, Shostakovich hätte seine eigene Distanzierung keine Sekunde ernst gemeint. Geblieben ist uns heutigen ein großes, wenn auch nicht oft gespieltes Werk – und ein Angedenken an ein Genie, das seinen Weg zu gehen vermochte allen Hindernissen zum Trotz, ohne hörbare Kompromisse – denn sonst könnten wir uns das vermutlich heute eher nicht mehr anhören.

Vladimir Jurowski leitete mit jugendlicher Nonchalance, fast ein Wenig lässig, doch mit präzisem Ergebnis. Auch die freudige herangehensweise seiner Instrumentalisten in den Solopartien wusste er jeweils rechtzeitig zu bändigen. Und Simon Trpceski, der – ja was denn? Jugoslawe? Mazedonier? -, der sein österreichisches Debut gab, interpretierte Prokofiews Klavierkonzert mit technischer Brillianz. Ein erfrischender Abend. Der Revolutionsheros ist dabei nicht abgegangen.

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