Wien Modern 2007 / 1
Die Kunst der Gegenwart mag manchmal – wenn man im Speziellen die bildende Kunst an ihren Flanken Video, Konzept, usw. betrachtet – ein Wenig zu sehr befreit aussehen: die viele Freiheit nimmt ihr die Luft der Produktivität, die Originalität, ja sogar die Botschaft. Das meiste scheint recht beliebig geworden zu sein. Eine Philosophie der Neuen Kunst müßte einen Zusammenhang zwischen einer Freiheit, die genommen wird, gegen zumindest spürbaren Widerstand, und Kunst, die Aussage transportiert, dergestalt dass die Relevanz der Kunst abnimmt, wenn die Freiheit zunimmt, zumindest wenn die Freiheit länger andauert. Dass sich dabei ein Markt zu etablieren vermag, sei dahingestellt.
Nicht umsonst will es meistens so scheinen, dass etwa die neuen Demokratien im Zentraleuropa oder gar das doch noch immer diktatorische China interessantere Kunst hervorbringen als die saturierten Märkte Mittel- und Westeuropas.
Dies kann aber nicht generalisierbar sein: gerade die Neue Musik beweist auch im 21. Jahrhundert, dass mit der völligen Freiheit der Wahl der Mittel, Techniken , Inhalte, ja Systeme keineswegs Beliebigkeit einherzugehen braucht.
Mit dem ersten Konzert des Radio Symphonie Orchesters unter Bertrand de Billy im Rahmen von Wien Modern beweist ein Reigen von Kompositionen zwischen 1961 und 2005, dass in diesem Bereich nicht bloß Entwicklung passiert, sondern dass offenbar längst nicht alles gesagt ist.
György Ligetis Atmosphères von 1961 sind ja – bei der dichten Qualität des Werkes: dankenswerter Weise – eine nicht gar so selten gehörte Einführung in musikalische Faktorenzerlegung. Zerlegt wird das Symphonische schlechthin: Ligeti entbindet den Klangkörper Orchester aller Dualität von Stimme und Begleitung, indem er die Stimme, Melodie, Thematik einfach wegläßt – zurück bleibt ein Klanggebilde, das sich wider Erwarten gar nicht selbst zu genügen braucht sondern als ernsthaftes Hörerlebnis gewohnte Räume sprengt. Den eher leisten Tönen und nur geringfügigen Übergängen zum Trotz leben die Atmosphères von ihrer Dichte und einer ins Flächige verschobenen Motivik.
Luciano Berios Concerto für zwei Klaviere und Orchester aus den frühen Siebzigern war das wohl impressivste Werk des Abends: das Duo GrauSchumacher, ausgewiesene Spezialisten für moderne Komponisten, interpretierte den doppelten Solopart dieses Konzerts in Gestalt eines Nicht-Dialogs zwischen Soloinstrument(en) und Orchester. Berio bricht hier – im Gegensatz zum nachfolgenden Werk des Amerikaners Carter – noch nicht mit den Traditionen des Instrumentalkonzerts – mit Rückgriffen auf kammermusikalisches Duettieren der Stimmen (die beiden Klaviere mit- und gegeneinander, Klavier I mit Flöte, Klavier 2 mit Streichern usw.) erzeugt er Interaktionen, die bisweilen wie simultane Transkriptionen wirken.
Elliott Carter wird nicht umsonst als einer der bedeutendsten Komponisten – nicht nur amerikas – des zwanzigsten jahrhunderts angesehen. In seinen Soundings von 2005 versucht der schon 1908 geborene Grand Old Man, die Klangquellen von Soloinstrument und Orchester konsequent als gleichberechtigte, aber nicht verknüpfte Monologe nebeneinander her laufen zu lassen, ein Abschied von allen Traditionen des Instrumentalkonzerts. Weder begleitet das Orchester eine hochgestochene Darbietung, wie es zu zeiten der großen Virtuosen der Romantik gängig war, noch führt der Komponist Stimmen ineinander über, wie es im Stil der Klassik lag; auch von der durchgängig symphonischen Behandlung des Soloinstruments (wie seit Brahms üblich geworden) nimmt Carter hier Abstand – Soundings ist die perfekte Verweigerung der Traditionen des Genres.
Zum Schluß scheint der Gedanke der Entledigung von tradierten kompositorischen Techniken nur folgerichtig fortgeführt in Georg Friedrich Haas‘ Poéme für großes Orchester: in geringen Akkorden steigen zwei Melodielinien gegeneinander auf und ab – viel Spannung in diesem Aufeinander-zu-Bewegen der Stränge, der endlich in Stilstand endet.
Man kann nicht sagen, dass die Neue Musik sich in Beliebigkeit erschöpfte. Man kann aber – gerade bei einem Festival oder Veranstaltungsbogen wie Wien Modern auch nicht sagen, dass Adorno etwa recht gehabt hätte mit seiner Befürchtung der Austrocknung der Ernsten Musik durch die Kulturindustrie. In unserer Gegenwart dürfte eher die megalomansiche Kulturindustrie am Austrocknen sein, im kleineren jedoch spielt sich die Entwicklung ab.