Der russische Romancier Wassili Grossman war lange Zeit ein Unbekannter – sein Hauptwerk Leben und Schicksal war in der Sowjetunion auch nach Stalin lange Zeit verboten, auf deutsch nur in einer verstümmelten Ausgabe erhältlich. Und dennoch zeigte diese eindrucksvoll das enorme Format des Autors.
Sein später, bis zu seinem Tod mehrfach umgearbeiteter Roman Alles fließt ist erst jüngst in einer Übersetzung von Annelore Nitschke erschienen – und vermag weniger zu überzeugen.
Im Hinblick auf Thema und Zeit der Entstehung ist es wahrscheinlich sensationell, mit welch klaren Worten Grossman die Greuel des stalinistischen Terrorregimes beschreibt, ja selbst seine Spiegelungen in dem, was die Protagonisten als ihr normales Leben fristen, birgt fundamentale Kritik an der Unmenschlichkeit des Systems.
Der Häftling Iwan Grigorjewitsch kehrt nach dreißig Jahren im Gulag zurück in die Welt, die sich äußerlich massiv verändert hat und innerlich doch nahezu die gleiche geblieben ist. Man darf wieder dies oder jenes sagen, ohne gleich abgeholt zu werden fürchten zu müssen, doch die Beschädigungen der Menschen sitzen tief – das versteht Grossman mit liebevoller Präzision zu beschreiben.
Auch findet er klare, harte Worte für den Diktator – ohne darüber die Mitbürger, Freunde, Denunzianten vom hohen Ross moralischer Überheblichkeit zu bewerten; dem Text ist das Bemühen anzumerken um seine Gratwanderung zwischen der Nachsicht für die selbst Bedrohten oder Eingeschüchterten und dem Bewusstsein, dass deswegen nicht alles und jeder taxfrei exkulpiert werden kann und darf.
Leider entwickelt sich kein Plot; dem Buch fehlt vieles an Architektur. Im Kleinen schreibt hier der Meister von Leben und Schicksal, im Großen macht er sich nicht bemerkbar. So notwendig eine Geschichte wie die von der Rückkehr aus dem Gulag ist, so schwach ist diese hier gebaut. Der deutsche Titel nennt das Problem verklausuliert beim Namen – er müßte lauten: alles zerfliesst.
Irgendwann im letzten Drittel versiegt der Fluss der Erzählung und weicht einem Essay über Lenin, die folgerichtige Pervertierung seines Systems durch Stalin und das russische Sklaventum im Allgemeinen.
Wo bleibt denn Russlands Hoffnung, wenn nicht einmal seine großen Propheten zwischen Freiheit und Sklaventum unterscheiden können?
Wo bleibt denn die Hoffnung, wenn Russlands Genies die sanfte, helle Schönheit seiner Seele in seinem ergebenen Sklaventum sehen?
Wo bleibt denn Russlands Hoffnung, wenn sein größter Reformer, Lenin, die Bindung der russischen Entwicklung an Unfreiheit und Leibeigenschaft nicht zerstört, sondern gefestigt hat?