Marx lesen? Wohl eher Zeitverschwendung!

Früher war es ja schick, entweder für oder gegen Marx zu sein, wozu man ihn dummerweise in beiden Fällen gelesen haben sollte. Seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Welt ist es allerdings still um ihren philosophischen Vordenker geworden, so still schon, dass man befürchten muss, da komme noch was.

Und tatsächlich, es gibt wieder wirkliche Ausgaben seiner Werke in den Regalen, abseits der massenhaften Verramschung der einstigen Ost-Ausgabe-Halden. Man schneidet also wieder Bäume um für Karl Marx. Einerseits ist es ja nun tatsächlich so, dass alles, was jemals geschrieben wurde, irgendwie immer ein Recht hat, gelesen zu werden. Dieses Recht läßt sich allerdings kaum je ausweiten zu einer Verpflichtung, dass das auch jedermann brav tue.

Zu Marxens Diktum, es kömme darauf an, die Welt zu verändern, ist direkt und indirekt hier schon manches geschrieben worden (zuletzt ausgehend von Odo Marquard). Dass solches tatsächlich ins Werk gesetzt wurde, kann man und kann man nicht dem Philosophen anlasten: er selbst war nicht dabei, sein Werk sehr wohl.

Daraus sollte man keineswegs ableiten, dass uns obliege, Marx zu lesen, wenngleich das Robert Kurz in seiner bei Eichborn erschienenen Zusammenstellung Marx lesen. Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert nahelegt:
Robert Kurz - Marx lesen

Die Wiederentdeckung von Marx kann nur seine Überwindung sein; aber nicht als Rückfall in seine Theorie, sondern als deren immanente Weiterentwicklung über die historisch bedingten und heute verfallenen Momente hinaus.

Das kling ja zunächst einmal wie ein Projekt. Kurz verspricht des weiteren eine Auswahl aus Marxens Werk, die eben diesen über Marx hinausgehenden Blick ermöglichen soll. Und natürlich beginnt alles mit dem Kapital, Band eins, der Kritik der politischen Ökonomie
Zunächst unterscheidet Marx bei Produkten zwischen deren Gebrauchswert und deren Tauschwert, welche – naheliegend – nicht parallel zu liegen brauchen. Mühsam tastet er sich vor zu einem ziemlich früh in der menschlichen Gesellschaftsentwicklung anzusetzenden Akt der Supposition: des Gebrauchswerts durch einen Tauschwert. Denn die Naturalwirtschaft wird recht schnell umständlich, wenn nicht der eine die Produkte des anderen direkt gegen die eigenen zu tauschen vermag, sondern von den Waren größere Kreise durchwandert werden müßten, um jedem das zu verschaffen, wessen er bedarf. (Es wäre übrigens eine hübsche Aufgabe für mathematische Optimierungen, eine größere Anzahl von Anbietern verschiedener Waren mit verschiedenen Bedürfnissen abzugleichen.) Man könnte das unter historischen Gesichtspunkten sehen, doch Marx will partout etwas für seine Gegenwart daraus herleiten, also setzt er bereits die Transformation der Gebrauchswerte in ihre bloße, von der angreifbaren Ware gelöste Wertform, den Geldwert, unter die Anführungszeichen „bürgerlich“: dass er sich dann über etliche Seiten mit Gleichungen der Form 20 Ellen Leinwand = 1 Rock = 10 Pfd. Tee verbreitet, ist fast schon unwissenschaftlich in seiner Borniertheit – das hat Kindergartenniveau; man möchte davor zurückschrecken, das auch für die Zeit Marxens als höher stehend anzusehen. Aber vielleicht wußte ja Marx, dass er damit das Material für Leute vom Kaliber Lenins schrieb, die über eine Mantrisierung der Zirkulationen W-G-W und G-W-G ihrer geistig einfacher strukturierten Gefolgschaft elegant etwas vormachen konnten.

Würde man sagen, Geld eigne sich hervorragend dafür, eigene Ware oder Leistung in eine flexible Einheit zu wechseln, um diese wiederum – unabhängig vom Bedarf des Lieferanten – gegen beliebige Waren zu tauschen, dann hätte man mit wesentlich weniger Geheimnis und auch weniger Papier die Tatsachen recht gut dargestellt. Nicht so bei Karl M.:

Es ist zwar auch möglich, dass in W-G-W die beiden Extreme W, W, z.B. Korn und Kleider, quantitativ verschiedne Wertgrößen sind. Der Bauer kann sein Korn über dem Wert verkaufen oder die Kleider unter ihrem Wert kaufen. Er kann seinerseits vom Kleiderhändler geprellt werden.

Das geht eine Weile so in dem weiland so ehrfurchtsvoll behandelten Schmöker, man möchte es gar nicht glauben.

Verkauft und kauft jemand, um zu nutzen (W-G-W), sei das gut, kaufe er jedoch, um wieder zu verkaufen (G-W-G), so eben nicht: zumal durch diese Umwald von Geld zu Ware und wieder zurück zu Geld aus G plötzlich G + Δ G geworden sei, mithin Mehrwert. Und Marx findet fluggs heraus, dass eben der Einsatz von Geld zum Zwecke der Wertschöpfung aus der relativ toten Materie Geld erst Kapital mache. Dass er damit indirekt die Komponente der Produktivität von Geld aufdeckt, scheint er nicht gesehen oder einfach ignoriert zu haben.

Nun gut. Andererseits drückt er sich um die Existenzberechtigung des Handels und des Händlers geflissentlich herum: durch die Umwandlung von Geld in Kapital ist aus dem Händler, also einem, der kauft, um zu verkaufen, und nach allgemeinem Verstand vollkommen verblödet wäre, wollte er das jeweils zum gleichen Preis tun, ein Kapitalist geworden. Marx scheint den direkten Austausch zwischen Produzenten zu bevorzugen und anerkennt dabei sogar Rolle und Vorteil der Arbeitsteilung: A könne mehr Getreide produzieren als B, dafür B mehr Wein, als A dies könnte.
Vollkommen absurd wird das alles, wenn Marx erst auf die Arbeitskraft desjenigen zu sprechen kommt, der eben aus eigenem keine Waren produziere und damit nichts zu tauschen hätte.

Anstatt aber froh zu sein, dass auch Arbeitskraft gebraucht wird, problematisiert Marx das: denn der Kapitalist kaufe Waren in einem Vorzustand und nutze die angebotene Arbeitskraft zur Verarbeitung, um das Ergebnis teurer zu verkaufen, als dies die Summe von Vorprodukt und Arbeitskraft rechtfertige. Er verbeißt sich in den scheinbaren Widerspruch, dass der Wert der Ware im Zirkulationsprozess ja nicht gut zugleich G und G + Δ G sein könne.

Man kann Probleme sichtlich auch durch fortgesetzte Borniertheit erzeugen. Denn der Wert der Ware, auch der Arbeitskraft als am Markt angebotener quasi substanzloser Ware, bestimme sich aus der

durch die zur Produktion, also auch Reproduktion, dieses spezifischen Artikels notwendige(n) Arbeitszeit […] Zu seiner Erhaltung bedarf das lebendige Individuum einer gewissen Summe von Lebensmitteln. Die zur Produktion von Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit löst sich also auf in die zur Produktion dieser Lebensmittel notwendige Arbeitszeit, oder der Wert der Arbeitskraft ist der Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel.

Insoferne, so könnte man daraus schließen, wäre der Arbeiter nichts anderes als ein Ochse, was auf einem gewissen Niveau von Tätigkeiten auch außerhalb dieser engen marx’schen Perspektive vielleicht sogar zuträfe. Was Marx jedoch generell außer acht läßt, ist die simple und immer schon vorhandene Realität abgestufter Wertigkeiten, indem nämlich der Ochse realiter kaum mehr erhält, als was Marx da definiert, ein Arbeiter mit bestimmten über die bloße Kraftbereitstellung eines Ochsen hinausgehenden Fähigkeiten aber sehr wohl. Dieses Prinzip hatten sogar schon die verschiedenen Sklavenhaltergesellschaften von der Antike bis in die sezessionistischen Südstaaten kapiert.

Man sollte nicht mit Marx emporsteigen (wollen) zu den höheren Organisationformen und komplexeren Zusammenhängen der Wirtschaft, wenn man sich dessen bewußt geworden ist, wie falsch die Grundannahmen sind: eben deswegen vermochte wohl bislang kein System, das auf diese Lehren aufbaute, erfolgreich zu bestehen, denn der Wert der Arbeitskraft läßt sich nicht nach der Ochsenformel festlegen. Auf einer solchen Grundlage wächst höchstens ein System, das sich – im Großen eben wie im Kleinen – der eigenen Erhaltung widmet und darüber hinaus wenig schafft. Der restlose Zusammenbruch der DDR ist ein Musterbeispiel dafür, wie wenig so ein toller real existierender Sozialismus eigentlich an Substanz hinterlassen hat.

In einem gewissen Sinn sind Unternehmen, denen heute der Vorwurf des Turbokapitalismus gemacht wird, richtig betrachtet die wahren Erben des marx’schen Denkens: sie betrachten die Arbeitskraft als die eines Ochsen, die man genausogut in China oder sonstwo zukaufen kann, wie es Firmen wie der Spielwarenhersteller Mattel praktizieren und dabei weitere Faktoren (die Gesundheit und Verträglichkeit ihrer Produkte zum Beispiel) übersehen. Nicht umsonst produzieren sie gerade in China, wo ein von seiner Abkunft her marxistisches System herrscht und qua Definition des Arbeiters als Ochs für billige Arbeitskraft sorgt, so billig, dass sich vielfach der Einsatz komplexer Maschinen gar nicht erst rentiert. Man soll zwar jetzt nicht dem historischen Marx ad personam die Schuld an den Zuständen im Reich der Mitte geben, es verwirklicht sich dort aber ziemlich wortwörtlich, was er geschrieben hat, ohne dass es die Lage der Arbeiterklasse, welche er postulierte, irgend verbesserte, nein, diese Klasse wohl erst durch sein Zutun geschaffen wurde – mit all dem Schlamassel, in dem sie nun steckt.

Hier schließt sich ein Kreis von der basalen Analyse aus Marxens Kapital bis zu seiner Forderung, die Welt zu verändern: die vorher nicht in der Form existente Gleichung Arbeiter = Ochs wurde flächendeckend umgesetzt.

Uns heutigen wird dieser Unfug wohl nichts mehr helfen können. Wir haben Probleme mit Auswüchsen des Kapitalismus – aber ob das auch nur entfernt der Kapitalismus des Karl Marx ist, sei erst mal fragend dahingestellt.

Print Friendly, PDF & Email

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert