Warum gibt es Rückschritte?

Die Frage, warum von Zeit zu Zeit gewaltige Rückschritte in der Menschheitsentwicklung auftreten, kann man natürlich einfach abtun oder polemisch beantworten. Insbesondere das sogenannte finstere Mittelalter, in dem es an allem und jedem fehlt, was frühere Kulturen bereits an öffentlichen wie privaten Errungenschaften, von einer in deutlichem Abstand zum Mittelalter stehenden Höhe des Denkens ganz zu schweigen, ist als eine enorme weil zeitlich über Jahrhunderte ausgreifende ‚Delle‘ und daher seit jeher von Interesse.

Ich halte vom Mittelalter seiner christlichen Verfasstheit wegen wenig und bringe der Epoche gegenüber auch kaum Interesse auf – bis auf obige Fragestellung, die mich nachhaltig fasziniert. Nun bin ich endlich dazu gekommen, eine der neueren Interpretationen des Untergangs der spätrömischen Welt zu lesen, die sich in meinem Bücherstapel gedulden musste:

Peter Heather - Der Untergang des römischen Weltreichs

Der britische Mediävist Peter Heather hat mit Der Untergang des Römischen Weltreichs eine durchdachte neue Analyse der Ursachen dieses Zusammenbruchs vorgelegt, die in ihrer Stringenz beeindruckend ist.

Heather zufolge ist dieses enorme Weltreich, das ja 486 nicht untergegangen sondern nur auseinander gebrochen ist, nicht an innerer Schwäche zugrunde gegangen, an Dekadenz, Überdehnung oder all den intrinsischen Ursachen, die bisher im Gefolge von Edward Gibbon angenommen wurden. Es wurde auch nicht von Germanenstämmen, die ihrerseits von den Hunnen vorangetrieben wurden, überrannt.

Krank sei dieses Gemeinwesen keineswegs gewesen. Die Wirtschaft funktionierte auch im 4. und 5. Jahrhundert noch gut, wenn auch die auf den Einsatz von Sklaven gestützte Wirtschaftweise per se zu weiteren Produktionssteigerungen nicht in der Lage war, doch auch nicht die steigende Besteuerung der Landwirtschaft vertrieb die Bevölkerung in die Städte und höhlte so die Widerstandsfähigkeit des Reiches aus.

Innerhalb der Gesellschaft verliefen langdauernde Veränderungen, die nicht eigentlich als Brüche sondern aufgrund ihrer Laufzeit eher als Niveauveränderungen zu sehen sind. So wird die römische Gesellschaft vieler Regionen an der Peripherie des Reiches allmählich barbarisiert, umgekehrt die anwohnenden und (mehr oder minder friedlich) integrierten Barbaren romanisiert – so entsteht etwa in Gallien ein Bevölkerungsgemisch mit durchaus homogener römisch geprägter Kultur. Die Romanitas lebt also unter anderen Herrschaftsstrukturen und Herrscherfamilien fort.

Einen Todesstoß für das Westreich gibt es nur insoferne, als irgendwo im Osten die Hunnen eine Kette von Ereignissen in Gang setzen: vor ihnen fliehen Goten, die vom Kaiser ins Ostreich aufgenommen werden und sich dort als Bodensatz der Unruhe erweisen – just in einem Moment, als die Parther im Osten die militärischen Kräfte binden.

Unabhängig davon kosten die Verteidigungsaufwände mehr und mehr Geld, das immer schwieriger aufzubringen ist – nicht weil die römische Wirtschaft kollabierte, wie das oft angeführt wird, sondern weil die eigentliche Wirtschaftskraft des Reiches, der privilegierte Großgrundbesitz, so gut wie keine Steuern zahlt. Hier entsteht der Grundstock der späteren mittelalterlichen Aristokratie.

Die Militärs haben im Reich eine immer dominierendere Position eingenommen, sie sind es, die Kaiser erheben, durchsetzen – und fallen lassen oder gar ermorden. So ist das Ableben jeden fähigen Kaisers von einer längeren Phase der Unsicherheit gefolgt, in der mehrere Nachfolger um die Macht ringen, blutige Bürgerkriege das Bild prägen.

Jede dieser Entwicklungen wäre für sich allein durchaus geeignet, vom römischen Staat ausgehalten und austariert zu werden. Die zunehmende Verknüpfung der Problemkreise aber, innerhalb der Grenzen des Reichs wurmisierende Barbarenpopulationen, Phasen des Nachfolgestreits und eine darüber immer leerer und leerer werdende Staatskasse, strapazieren zusehens die Kräfte des Reichs.

Irgendwann beginnt sich eine Spirale zu drehen, an deren Ende der Zusammenhalt des Reichs verloren geht, wenn es auch zunächst noch eine Mehrzahl regionaler römischer Reiche auf dem Territorium des ehemaligen Westrom gibt, die gemeinhin als germanische tituliert werden, ihrer ganzen Organisation nach aber eindeutig römisch sind.

Die Erkenntnis daraus: die Gründe für den totalen Niedergang der Kultur im frühen Mittelalter ist später zu suchen; die Germanen, die Westrom übernehmen, erhalten im Gegenteil die bestehende römische Kultur – denn die zu erlangen haben sie in langen Jahrhunderten des Kontakts mit Rom gelernt.

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