Der Anthropologe Hans Peter Duerr – Autor einer fünfbändigen Tour de Force durch die gesamte Kulturgeschichte namens Der Mythos vom Zivilisationsprozess, in der er sich strikt gegen den Begriff der Zivilisation im Sinne von Norbert Elias stellt – ist sicher kein Wissenschafter, der ausgetretene Pfade bevorzugt. Das zeigen auch seine jüngeren Schlussfolgerungen aus der Untersuchung mittelalterlicher Siedlungen im Wattenmeer, in deren Verlauf Duerr und Mitarbeiter auf vor-antike Artefakte gestoßen sein wollen.
Man scheint ihn in Fachkreise als Nicht-Archäologen kaum ernst zu nehmen; doch wird das vermutlich wenig zu bedeuten haben. Interessant scheint vielmehr, inwieweit seine Argumentation Sinn machen kann: Kreter aus dem sechzehnten Jahrhundert v.u.Z. sollen an die Nordsee gereist sein. Spuren davon hätten sich in den Mythen und vor allem der Argonautensage erhalten.
Abtenteurlich sind die Schlussfolgerungen, die Duerr aus seinen Funden zieht, natürlich schon: Die Fahrt der Argonauten behauptet nichts weniger als die persönliche Anwesenheit bronzezeitlicher Minoer in Nordfriesland. Und das würde immerhin eine Reise durchs gesamte Mittelmeer, rund um die iberische Halbinsel, durch den Ärmelkanal und weiter nach Nordosten bedeuten.
Nun sollte man bestimmt die Reichweite früher Expeditionen keineswegs pauschal unterschätzen. Das ist schon mehrfach schief gegangen. Andererseits stellt sich der Schlussfolgerung aber ein eher statistischer Befund entgegen: bedenkt man die lange Zeitspanne – immerhin dreieinhalb Jahrtausende – und bringt in Anschlag, dass die Damaligen wohl eine Menge an Artefakten streuen mussten, um einzelne davon bis auf unsere Tage kommen zu lassen, dann ist das Ganze entweder die Entdeckung einer Reisetätigkeit umfänglicheren Stils oder ein extremer Zufall.
Unbefriedigend ist aber das ganze Buch: hier ist hauptsächlich die Rede von stein- und bronzezeitlichen Fruchtbarkeitsgöttinnen und -göttern, deren Bezug zur Sonnenreise sowohl des Tag-Nacht-Bogens als auch der Saisonalität irgendwie in die heutige Landkarte eingebettet wird. Jenseits der Straße von Gibraltar beginnt die Unterwelt, geht die Sonne unter, um in einem weiten Bogen nach Norden und Osten während der Nacht ihre Reise zurück an den Punkt ihres täglichen Aufgehens zu verfolgen.
Der Argumentation kann ich insoweit folgen, als die Argonautensage älteres religiöses Gedankengut in eine nachfolgende Epoche transportiert haben mag; die alten Götter sind schlussendlich zu Heroen geworden, ihren Heldentaten liegen kultische Handlungen aus grauer Vorzeit zugrunde, soweit sie den Damaligen noch zugänglich waren.
Der Sprung zu einer Umseglung Spaniens ist dann aber recht willkürlich. Die Phönizier haben es eventuell sogar bis Irland geschafft, und ein paar Wellen haben offensichtlich noch nie Menschen davon abgehalten, weiter ins Unbekannte vorzudringen. Aber das war doch sehr viel später. Die Minoer hätten sich demnach noch viel weiter vor gewagt als lang nach ihnen die Phönizier. Das ist natürlich nicht per se unmöglich, die Argumentation betritt damit aber eindeutig extrem vorgelagertes Neuland.
Unbefriedigend an dem Buch ist, dass es so gut wie nicht zur Sache kommt. Der Kern der Spekulation wird in wenigen Absätzen berührt, eine stringente Argumentation fehlt oder ist in dem Wust an ethnologischem Material aus aller Welt verschütt gegangen. Nicht dass dieses reichliche Material nicht immens interessant wäre… auf den Kern des Buchs bezogen ist vieles davon aber Themenverfehlung, wenngleich es der Darstellungsweise, die Duerr auch schon in seinem Hauptwerk pflegte, durchaus entspricht.
Ich kann damit bei aller Hochachtung vor der Materialfülle wenig anfangen; gemessen am Klappentext begleitet man den Autor auf einer Irrfahrt wahrhaft epischer Dimension. Am Ende ist man durch all das Gesagte um keinen Deut schlauer geworden, hat sich keinen Millimeter auf ein Urteil zu bewegt, ob hinter der Behauptung Duerrs eine wissenschaftliche Sensation oder ein Hirngespinst von Däniken’schen Auswüchsen steht. Schade. Denn blendet man das eigentliche Thema aus, ist’s durchaus interessant.