Wer geglaubt hat, das Musical stamme aus Amerika, unterliegt einem gravierenden Irrtum. Aber auch aus Großbritannien stammt diese musikalische Seichtwasserei nicht. Sie hat ihren Ursprung vielmehr im zaristischen Russland genommen, schon tief im neunzehnten Jahrhundert: bei Alexander Borodin.
Der hat bekanntlich nur eine Oper geschrieben, den Fürst Igor, der außerhalb Russlands nicht eben zu den gern und viel gespielten Werken zählt – dessen Melodien aber weitesten Kreisen bekannt sind, auch solchen, die ein Opernhaus in der Regel nicht von innen zu sehen kriegen. Und das wiederum haben die Herren Robert Wright und George Forrest aus den USA verbrochen: für Ihr nicht weiter bemerkenswertes Musical ‚Kismet‘ haben sie sich großzügig und nahezu unverschämt am musikalischen Gedankengut des Russen bedient. Hervorgegangen ist daraus der All-Time-Hit ‚Strangers in Paradise‘ – ursprünglich das tragende Motiv der Polowetzer Tänze in ebendiesem Fürst Igor.
Aber Borodin hat nicht nur diesen Gassenhauer geschrieben; wenn mitten im zweiten Akt der Fürst Galitzki seine Arie abspult, fühlt man sich unweigerlich an ‚Borstenvieh und Schweinespeck‘ aus dem Zigeunerbaron erinnert. Und wieder war Borodin eindeutig früher dran. Diese Vorzeitigkeit muss man ihm immer zugute halten.
Denn diese Ausflüge in die Niederungen des Schlagers – obwohl handwerklich solide gemacht – verdecken die Perlen in seiner Oper: was der Melodiker zu flach anlegt, gelingt dem Chorkomponisten perfekt. Wie überhaupt der Chor in dieser zutiefst russischen Oper die eigentlich tragende Rolle spielt. Durch ihn hindurch und in ihn hinein verwoben singen die Solisten Musik von stupender Intensität, das klare Gegenteil der Tänze und der schenkelklopfenden Galitzki-Arie.
In der Neuinszenierung der New Yorker MET, schon wenige Wochen nach der Premiere auch Live in HD übertragen, singt eine herausragende Oksana Dyka die Fürstin Jaroslavna. Sie bringt das Kunststück zuwege, die eigentlich mittelalterliche Figur in ihrer romantisch-neurussischen Umsetzung auch für Heutige lebendig zu machen.
Viel mehr Aufhebens macht die MET von Anita Rachvelishvili, die eine eher kreischige Kontschakowna gibt, aber nicht nur in der Handlung sondern auch als Figur scheitert. Vielleicht liegt das ein Wenig daran, dass die Tochter des Khans keine sinnvolle Rolle im Drama spielt – die Nebenhandlung zwischen ihr und Fürstensohn Wladimir ist so verzichtbar wie die beiden Darsteller.
Anders Bass Ildar Abdrazakov, der nach anfänglicher Planlosigkeit doch noch zu voller Form aufläuft; er macht erst im Schlussakt wieder gut, was er im ersten Aktes eher schwach auf die Bühne stellt. Besonders neben Khan Kontschak, er vom slowakischen Bass Stefan Kocán kraftstrotzend und stimmgewaltig verkörpert wird, wird er farblos und uninspiriert. Gleiches ist von Sergey Semishkur zu sagen, der den Fürstensohn Wladimir eher schlecht als recht durch die Wirren von Heimat und Liebe bringt.
Hervorzuheben ist auf jeden Fall die Inszenierung von Dmitri Tcherniakov, die viel wert auf die Emotionen der Figuren legt, was Leben ins gefährlich hölzerne Historienspiel zu bringen vermag. Als Bühnenbildner ist seine Leistung eher als durchwachsen zu beurteilen, mit dem Mohnfeld im zweiten Akt ist ihm aber sicher eine extrem effektvolle Umsetzung gelungen. Von Lichtdesigner Gleb Filshtinsky hätte man sich vor allem den überwiegenden letzten Akt lang doch etwas mehr Licht gewünscht, auf jeden Fall nach der Arie der Jaroslavna, die als einzige Szene im letzten Akt von der spärlichen Ausleuchten wirklich profitiert.
Gianandrea Noseda geleitet das Orchester durch die Niederungen der Partitur, achtet zum Glück bei den populären Hits auf Zurückhaltung und Treue zum Notentext. Es klingt auch so schon wie Hit-Radio.
Der wahre Star des Abends ist aber der Chor in der Einstudierung von Chorus Master Donald Palumbo. So viel fremdsprachigen Text ohne Refrains und Repetitionen gibt es kaum je sonst zu lernen. Die Chorpassagen im zweiten und dritten Akt machen die eigentliche Qualität von Borodins Fürst Igor aus.