Nicht sollen dürfen

Wenn Odo Marquard schreibt:

…dort, wo die Geschichtsphilosophie einstweilen, allein indem sie ist, was sie ist, Aggressionsbedarf lanciert, werden jene Positionen wieder interessant und diskutabel, die etwas statt der Geschichtsphilosophie tun. Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert, es kömmt darauf an, sie zu verschonen.

dann drückt er darin ein Unbehagen aus (wiewohl schon 1971 vorgetragen), das wir am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts beinah flächendeckend verspürten, aber zu Beginn des 21. Jahrhunderts schon wieder zu vergessen drohen:
Gerade das letzte Jahrhundert des alten Jahrtausends lieferte fortwährend Exempel, wie die Aufforderung, die Welt zu verändern, welche (in der obigen Formulierung) ursprünglich bei Karl Marx sich findet, wenn sie über einen harmlos bürgerlichen Aktionismus hinaus drängt, in ernsthafte Katastrophen führt.
Die Befreiung der Arbeiterklasse vom Joch des Kapitalismus mochte zu Lebzeiten Marxens eine berechtigte Forderung und sogar eine Zielsetzung für gesellschaftliche Entwicklung sein – wenn sie auch für den Bürger Marx eher eine Beschäftigung aus Langeweile und Wichtigtuerei gewesen zu sein scheint.
Nun ist einerseits Marx natürlich weder dafür verantwortlich, was Lenin aus dem Marxismus gemacht hat, noch, was der real existierende Sozialismus aus sich selbst machte. Es geht auch nicht um Politik und Politikgeschichte.
Es geht darum, dass aus Geschichtsphilosophien Handlungsaufrufe entstehen, die auf einer Wahrheit fußen, die ihrerseits ein Befolgen des Handlungsaufrufs erzwingen möchte – zunächst vielleicht mit Argumenten. Da aber das Debattieren noch nie etwas verändert hat, und auch das Ausleben eigener Ansichten im kleinen Kreis an seine Grenzen stößt, vornehmlich, weil es ja nicht der kleine Kreis, sondern die große Welt ist, welche das Ziel der Veränderungsbestrebungen abgibt, wächst sich das recht bald aus.
Auf der einen Seite womöglich in einen Bader-Meinhof-Ensslin-Komplex der Verzweiflung an der eigenen Wirkungslosigkeit, die in Aggressivität umschlägt, auf der anderen in die ungefragten Aktivitäten von

  • der Glaube an solche privaten allmächtigen Wesen oder privaten unumstößlichen Wahrheiten ist weder besonderer Förderung noch extra Schutzes würdig, welcher über die Wahrung eben dieser Meinungsfreiheit hinausgeht
  • die Meinungsfreiheit des einen kann nicht die Meinungsfreiheit des anderen beschränken, genausowenig wie die Existenzberechtigung des einen jene eines beliebigen anderen überrollen können darf

Um das zu explizieren: der Schutz religiöser Freiheit ist ein Gut, das sich aus der Meinungsfreiheit ableiten läßt; jedoch birgt diese Meinungsfreiheit nicht zwangsläufig auch ein Äußerungsverbot für Andersdenkende. Eine Zeitung darf Karrikaturen drucken, worüber sie will, denn sie tut es für ihre Leser, also hat sonst niemand ein Recht, das zu bekritteln oder verwerflich oder auch nur überflüssig zu finden. Man muss auch einer „Glaubensgemeinschaft“ angehören dürfen, die eben nicht an ein allmächtiges höheres Wesen oder eine allgemeine Wahrheit glauben möchte, und auch eine Lebenseinstellung praktizieren dürfen, die solche lächerlich findet, die jenem anhängen. Einerseits ist Pietät garantiert keine Forderung der Menschenrechte, aber umgekehrt ist gerade der Spott eine Form der Meinungsäußerung.
Diese Dinge haben natürlich mit der Gesellschaftsform der Demokratie zu tun, so dass es in anderen Gesellschaftsformen nicht unbedingt gleichwertige Bedingungen geben muss, doch auch mit dem logischen Denken. Nicht-demokratische Strukturen fußen immer darauf, dass jemand eine Wahrheit in Beschlag nimmt und verallgemeinert, auch wenn sie nur in Gestalt von Macht auftritt, die durch wenig mehr legitimiert ist als die sie stützende und durchsetzende Gewalt. Das bedeutet aber nicht, dass sich damit die Gesetzmäßigkeiten logischen Denkens außer Kraft setzen ließen.
Odo Marquard - Probleme mit der Geschichtsphilosophie
Damit sind wir wieder bei der Geschichtsphilosophie, denn so heißt die Weltverbesserung als philosophische Kategorie, und Odo Marquard, der in Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie Versuche der Annäherung – ausgehend von Hegel – unternimmt, sich einer positiven Philosophie zu nähern, die jedoch an inneren Widersprüchen scheitern.

…wird man die Geschichtsphilosophie mindestens in dem Maß irrational nennen können, in welchen sie die Autonomie des Menschen nicht allein betreibt, sindern sie, ohne es zu wissen, zugleich auch hintertreibt; und dies tut sie, wenn gerade sie, die autonomiewillige Position, die Heteronomie in Gestalt eines Zwangsbedarfs an Alibis, an Gegnerfurcht und Kampfespflicht reetabliert.

Der Fortschritt solcher Geschichtsphilosophie – ja der Geschichtsphilosophie überhaupt – besteht nun nicht in einer Veränderung, sondern bloß in Vertauschungen und Ersetzungen:

die Pflicht zum Gottesbeweis durch die Pflicht zum Feindesbeweis, das Proslogion durch das Kapital, die Theodizee durch die Revolution, die mißlingende Theodizee durch den Bürgerkrieg. Sie begann als Kritik der Religion, sie endete als Religion der Kritik.

Aber ist das nicht eigentlich egal? Praktisch momentan noch ja, philosophischen aber längst nicht. Der Antagonismus zwischen Geschichtsphilosophie und Anthropologie führt in eine Aporie: der Drang nach Veränderungen fußt auf falschen Voraussetzungen und führt meist in irgendeine Katastrophe; umgekehrt bringt die Dertermination des Menschen aus seiner Natur (oder seiner Umwelt) eine Aberkennung seiner Freiheit und Autonomie mit sich. Es will scheinen, als wäre das Sollen der Preis für das Dürfen.
Zwischen den beiden Extremen gibt es keinen gangbaren Mittelweg, sozusagen ein Nicht sollen Dürfen. Bestenfalls, sagt Marquard, als Emigration.

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