Die französische Oper des 19. Jahrhunderts hat ja eine beachtliche Tradition der Literaturverhunzung auszuweisen: Faust und Werther sind dabei nur die heute noch auf den Spielplänen zu findenden Werke.
Gemeinsames Kennzeichen all dieser auf literarischen Vorlagen basierenden Libretti ist eine an die Grenzen der Unkenntlichkeit stoßende Verstümmelung der Stoffe. Nun mag es ja noch angehen, dass das Wort eines Dramatikers oder Autors von Format – nehmen wir den alten Goethe mal als einen solchen – nicht in ein Gesangslibretto passt, zumindest nicht nach dem Verständnis der Oper in vergangenen Jahrhunderten.
Die MET hat nun nach mehr als 100 Jahren eine weitere dieser Literaturvergewaltigungen neu ausgegraben – den Hamlet von Ambroise Thomas hatte sie zuletzt 1897 im Repertoire. Im Grunde war dieser Schlummer, wie die heutige LIVE in HD-Übertragung zeigt, nicht ganz unberechtigt. Dass man mit der Exhumierung der Schmonzette an der Wiener Staatsoper schon Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts begonnen hat, ich auch eher kein Ruhmesblatt.
Oper ist Oper und kein Drama – also lassen wir die Diskussion des Librettos beiseite; es hat mit dem Hamlet von William Shakespeare wenig mehr gemein als ein paar Personen und die sattsam bekannten Worte des großen Monologs to be or not to be – nur diese eine Zeile, danach kommen wieder die begnadeten Schnulzentexter Michel Carré und Jules Barbier zu Wort. Es ist ein Graus. Doch aber gut…
Die Londoner Pall Mall Gazette schrieb dazu schon 1890:
No one but a barbarian or a Frenchman would have dared to make such a lamentable burlesque of so tragic a theme as Hamlet.
Die Musik des zu seiner Zeit sehr erfolgreichen Franzosen ist italienisch inspiriert – er gewann 1832 den Grand Prix de Rome, der ihm ein weiteres Studium in Italien ermöglichte – und bemüht, den Sängerinnen (vor allem ihnen) Perlenketten für die flinken Kehlen zu liefern.
Schon in der Ouverture allerdings macht sich gediegene Einfalt breit, die Orchesterzwischenspiele müssen mit wenigen sich wiederholenden Formen das Auslagen finden. Groß wird Thomas‘ Kompositionskunst, wo es um Dramatik geht: die Auseinandersetzung Hamlets mit seiner Mutter im vierten Akt ist auch musikalisch dicht und spannungsgeladen. Der Versuch der Mutter, Hamlets Braut Ophelia in ihre Ränke einzuspinnen, entbehrt gleichfalls nicht der Dramatik, wenn zunächst Hoffnung sich aufbaut und alsbald Hamlet selbst sie zerstört.
Eine vollkommene Niederlage hingegen ist der große Hamlet-Monolog, auch musikalisch, nicht bloß wegen der textlichen Verstümmelung: aus einem an sich ernsten, an die philosophischen Grundthemen der Menschheit rührenden Räsonnieren wird bei Thomas flugs eine leichtfüßige cantilena, hübsch zu singen und vollends nichtssagend.
Auch die hochgelobte, angeblich längste Wahnsinnsszene der Operngeschichte, in der Ophelia ausrastet und schließlich sich selbst den Tod gibt, ist bestenfalls im Zeitgeschmack der Entstehung bewunderswert zu nennen, heute kommt sie allenfalls exaltiert, übertrieben feinnervig, im schlechtesten Sinne französisch daher.
Erstaunlich ist jedoch, wie ein Trio hervorragender Sängerinnen und Sänger dem gräßlichen Schinken – zumindest teilweise – Format einzuhauchen vermag. Allen voran Jennifer Larmore als Königin Gertrude, Hamlets Mutter, und die wunderbare Marlis Petersen als Ophelia, die erst kurz vor der Premiere innerhalb weniger Tage von der Medea in Wien nach New York eilte, um die ursprünglich vorgesehene Natalie Dessay zu ersetzen. Das ganze Gewese um diese sensationalle Leistung relativiert sich ein Wenig, wenn man berücksichtigt, dass Petersen die Rolle in ebendieser Produktion ab 9. April sowieso hätte singen sollen. Nichts desto trotz hat sie sich neuerlich als herausragende Interpretin profiliert.
Auch dem stets jugendlichen britischen Bariton Simon Keenlyside verdankt die Aufführung viel: dass er zu seinen sanglichen Qualitäten gern und gut als Mime agiert, rettet seine Figur des Hamlet vor der Lächerlichkeit. Dank gebührt ihm auch dafür, dass er sich von den allgegenwärtigen Manierismen des französischen Subtexts nicht hat anstecken lassen.
Diesem gibt Dirigent Louis Langrée als echter Patriot natürlich allen Raum. mit den vorhersehbaren Folgen. Musikalisch pickt die Angelegenheit wie Zuckersirup, selbst die geballte Banalität von Monsieur Thomas wird noch zelebriert, als ob sie von Mozart wär. Gar nicht gut.
Eine zweifelhafte Besetzung ist auch James Morris als König Claudius. Der Mann macht einfach seinen Mund nicht auf beim Singen. Und er gehört noch in die Riege der statischen Sänger, die szenische Integration tendiert gegen null.
Bühnenbildner Christian Fenouillat schafft auf der Bühne Raum, agiert mit wenigen beweglichen Mauerteilen und einer Handvoll Utensilien erfrischend sparsam, doch hat der Komponist zwischen die Akte längere Intermezzi geschrieben, die man durchleiden muss, obgleich der Umbau keine paar Sekunden erfordert – hier könnte aber Michael Scott, der Verdis Simon Boccanegra mit endlosen und häufigen Umbaupausen gänzlich zerschoss, gewinnbringend in die Schule gehen.
Die Inszenierung von Patrice Caurier und Moshe Leiser lässt mancherorten ausreichend Luft für die Akteure, ihre Positionen zu entwickeln, was dem Stück das Leben rettet; bisweilen greift sie aber beidhändig in den Matsch: die Pantomimeneinlage zur Entlarvung des Königs Claudius als Mörder von Hamlets Vater ist mehr als kindisch, Ophelias Wahnsinnsszene in ihrer angestrebten Dramatik schon wieder lachhaft. Wo sie ihre Protagonisten, namentlich die herausragenden Keenlyside, Petersen und Larmore, alleine lässt, tut sie am besten.
Man hätte nicht trauern müssen, wäre Thomas‘ verkorkste Version des Hamletstoffes im Grabe der Vergessenheit geblieben. Geblieben ist von der Exhumierung aber der Eindruck einzelner Szenen – Larmore und Petersen, Larmore und Keenlyside -, die zeigen, dass sich auch aus solchem Schmus partiell noch was machen lässt.
Ein Gedanke zu “Petersen, Larmore, Keenlyside – aber was für ein Stück?”