Berlinische Reise – Nachlese
Wenn man berufenem Munde glauben darf: mein Eindruck trog nicht. In Berlin wurde gebaut, um einen eklatanten Mangel an weltpolitischer Bedeutung und historischer Tiefe zu verstellen. Das Preußen, in dem sich die Könige (die Friedrich Wilhelms III und IV) von der napoleonischen Ära bis zu den Revolutionen von 1848 ihre Denkmäler setzten, stammte aus der (heute wie ursprünglich) polnischen Ebene, zuinnerst agrarisches Land, in dem geistige Hochburgen wie Königsberg die Ausnahme bildeten.
Der berufene Mund ist jener von Sebatian Haffner, der ja einerseits selber gebürtiger Berliner gewesen, andererseits aus Protest gegen das Naziregime 1933 aus dem Staatsdienst schied und 1938 seiner jüdischen Frau in die Emigration nach England folgte, mithin einer, der es sich hätte leichter machen können mit dem preußischen Militarismus, der preußischen Unkultur, sowohl in der einen wie in der anderen Richtung.
Haffner aber hat sich in Preußen ohne Legende dem Unternehmen unterzogen, zu sichten, was hinter all den Legenden, den glorifizierenden genauso wie den diabolisierenden, denn für ein Kern stecke:
Dieses Preußen ist ein weiterer Beweis dafür, dass die massenhafte Kultivierung der lateinamerikanischen Kartoffel dem Kontinent Europa nicht ausschließlich Gutes getan hat: die genügsame Knolle hat größenwahnsinnige Kriege und Massenheere wohl erst möglich gemacht. Was nicht bei Haffner steht; wohl aber:
Noch 1701 ist es beinahe ein Witz, dass der Kurfürst von Brandenburg sich jetzt König „in“ Preußen nennt.
Das war noch vor dem Großen Fritz, der die Serie der österreichischen Niederlagen einleitete, indem er Maria Theresia Schlesien wegnahm und in der europäischen Politik trotz Gegnerschaft dreier Großmächte gleich auch noch damit durchkam. Ein großer Mythos ist da nirgendwo zu erkennen, so sieht das auch Haffner. Preußen ist ein notgedrungen auf Gebietserweiterung zielendes regionales Gebilde, das seinem Herrscherhaus, den damals noch lang nicht besonderen Hohenzollern, schon immer zu klein und zu weit im Osten lag – daher der Drang nach mehr, nach Westen, nach Europa, später in die Welt.
Wenn damals dieses Preußen in seiner mehrheitlich agrarischen Struktur im Osten wurzelte und seine Kraft daher bezog, so war es mit der Bedeutung dieser Ressourcen alsbald vorbei, im innerdeutschen Ringen um die Vorherrschaft zählte allemal die Glorie der langen Tradition; also mußte sich auch Preußen den Anschein einer solchen geben und leitete sich von den Deutschen Ordensrittern her – deren letzter schon ein Hohenzoller gewesen. Alles in allem eine für preußische Verhältnisse enorme Verlängerung in die Tiefen der Vergangenheit, im europäischen Vergleich war’s aber ein eher bescheidenes Herkommen, das dabei herauskam.
Schlußendlich, angelangt bei seiner (militärischen) Großmachtstellung in der Phase der Restauration nach dem Ende des ersten Napoleon, begann Preußen sich auf sich selbst zurück zu ziehen, in die neuerdings wieder hoch in Beachtung stehende Epoche der deutschen Romantik. Einiges von bleibendem Wert wird geschaffen: Musik von Mendelssohn-Bartholdy, Schumann, später noch von Nachzügler Brahms, Impulse in der Philosophie, die aber rasch sich verläuft in einen deutschen Idealismus und die Weltgeisterei Hegels, sowie in einer mehr am Zählen, Ordnen, Katalogisieren und Registrieren, an der bürokratischen Artenbildung sozusagen, orientierte Wissenschaft, die dennoch Großes leistet – in der Vorbereitung späterer Entwicklungen. In der Literatur aber herrscht eine mittelalterwärts zurückgewandte Realitätsverweigerung, wie sie vom preußischen Wesen recht direkt auf das deutsche übergegangen ist.
Krass wird diese Epoche aber – wie man in Berlin zu sehen kriegt – an der sogenannten Baukunst. Darüber ist hier anläßlich der Berlinischen Reise schon hinreichend gemeckert worden. Da das Bauen Gelder vom Ausmaß herrschaftlicher Schatullen erfordert, zumindest in jener Zeit, als die barocken Potentaten und Kleinfürsten nicht mehr da waren, um ausufernde Vermögen zu verschleudern, und die vermögende Bürgerschaft noch nicht ausgebildet war, um in gemeinsamer Kollekte einzuspringen, bauten die Friedich Wilhelme – und taten es aus einer Macht- und Kulturvorllkommenheit, wie sie nur in vollständiger Selbstüberschätzung fußen kann, in Gestalt eigener Pläne. Auch bediente man sich des Oberbaubürokraten Karl Friedrich Schinkel zur Gleichschaltung der Architektur: er besserte an vielen fremden Entwürfen nach, um etwas wie den Schinkel-Stil zu generieren.
In dieser Bauerei verkörpert sich der Drang, Preußen eine repräsentative Hauptstadt zu geben. Vorher war nicht allzu viel da, so konnte der erbärmliche Klassizismus in Multiplikation mit der angestrebten Bedeutung Preußens zu einem klotzigen Postulat feiner Sinne werden, die hinter dem vielen Stein gar nicht vorhanden waren. Man verwechselt gerne in Betrachtung dieser Bauten die klare Linie der Aufklärung mit ihren in Höhe und Breite gezogenen Demenzformen. Für unpeinliche Prachtentfaltung fehlte das Barocke, die Sinnenfreude, als Basis und Hintergrund, an welchen sich die Aufklärung (mit welcher eigentlich die preußische Geschichte beginnt) hätte reiben können; so ist – wie in der deutschen Philosophie nach Kant – vernünftelnde Lucidität geblieben. Man könnte sagen: Schleiermacher und vor allem Hegel gebaut: der Wille zum Walten des Weltgeists ersetzt fast vollständig das Gefühl für Proportionen, die entgegen der blanken Spekulation aus der Realität zu destillieren wären.
Wenn man bedenkt, dass dieses Berlin von der Roten Armee dem Erdboden gleich gemacht wurde, ist es eigentlich beinahe schade, dass einige dieser Protzbauten wieder aufgerichtet wurden. Den Palast der Republik schleift man ja grade auch, weil sowohl seine Häßlichkeit als auch seine gebaute Weltsicht nicht mehr in unsere Zeit passen.