Wenn man seinen Augenschein aus den Medien, nachgerade dem Fernsehen, bezieht, ist es leicht, sich in einer Epoche ausufernder Gewalt zu wähnen, wird doch das Programm nahezu beständig mit Stammeskriegen und ethischen Konflikten bestritten. Seit dem September 2001 steht auch die Drohung eines allgegenwärtigen Terrors vornehmlich religiös motivierter Herkunft im Fokus unserer Ängste. Auch der vermeintlich katastrophale Zustand unserer Umwelt lässt nur noch Übles schwanen.
Wohltuend macht sich demgegenüber das Buch Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit des kanadisch-amerikanischen Psychologen Steven Pinker bemerkbar: er unternimmt, wenn auch nicht als erster, einen prüfenden Blick in die Tatsachen der Geschichte, in die Entwicklung von Kriegen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und anderen Formen der Gewalt von Regierenden und Mitmenschen.
Entgegen den Gepflogenheiten einer eher auf Erzählungen spezialisierten historischen Zunft geht Pinker den ungleich mühsameren Weg statistischer Analyse, also der Sammlung von Daten über Vorfälle, die zu den unterschiedlichen Ausprägungen von Gewalt gehören, um sie in entwicklungskritischer Sicht auszuwerten. Denn die interessante Frage ist natürlich, ob es in den Tatsachen Anhaltspunkte für die Anmutung einer sich immer schneller drehenden Spirale der Apokalypse gibt.
Um es kurz zu machen: auf ganzer Linie Fehlanzeige. Kriege gab es früher weitaus mehr, selbst zwischenstaatliche Konflikte mit absolut höheren Opferzahlen als die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Von relativen Opferzahlen gar nicht erst zu reden: im gesamten 20. Jahrhundert sind etwa 6 Milliarden Menschen verstorben – gemessen an dieser Zahl sind die Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen sowie jene von Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot und anderen Irren zusammen eine Marginalie. Zu Zeiten geringerer Bevölkerungszahlen war es natürlich leichter möglich, einen höheren Anteil davon umzubringen – und die Völker und Herrscher der Geschichte aller Kontinente haben davon reichlich Gebrauch gemacht.
Pinker macht aber nicht nur die Verhältnisse in Zahlen direkt greifbar, er stellt auch die Entwicklungslinien einer heute friedlicheren Weltgesellschaft plausibel dar: woran mag es liegen, dass wir seit dem Mittelalter in Europa stark rückläufige Opferquoten sehen, dass ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung unter zwischenstaatlicher, staatlicher und auch zwischenmenschlicher Gewalt zu leiden hat. Dabei bezieht Pinker nacheinander auch die anderen Formen der Gewalt mit ein in seine Analysen: neben kriegerischen Handlungen und Völkermord im Gefolge von Kriegen oder Bürgerkriegen geht er auch auf niederschwellige Stammes- und Gruppenkonflikte ein, auf die Randformen der Gewaltausübung in solchen Zusammenhängen sowie die Rolle der Ideologien und des Terrors, aber auch auf zwischenmenschliche Gewalt wie Mord, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung und zum Schluss sogar auf Diskriminierung von religiösen Minderheiten, Frauen oder Homosexuellen, um am Ende bei den Tierrechten zu enden.
An vielen Stationen der Geschichte macht Pinker klar, dass die Vermutung einer besseren alten Zeit in aller Regel im Wunschdenken einer rückwärtsgewandten Gegenwartsangst begründet zu sein scheint, die es in recht vergleichbaren Formen zu allen Zeiten in allen Epochen gegeben haben dürfte. Die rasante Spirale der Gewalt, welche die Medien uns tagtäglich vor Augen führen, scheint eine optische Täuschung zu sein. Jedenfalls scheinen wir uns unvermuteter Weise an ihrem äußeren Ende zu befinden, nicht in ihrem Zentrum.